
Die letzten Zuckungen des Ultra-Neoliberalismus und der Austeritätsschock in Amerika
Foto: Flickr (Kevin Dooley) / (CC BY 2.0)
Einige Leute zerbrechen sich den Kopf über die US-Wirtschaft. Sie fragen sich, warum das Wachstum in diesem Aufschwung so schwach geblieben ist und warum die Löhne nicht anziehen, wo die Arbeitslosenquote doch stark gesunken ist? Und diese Leute finden dann oft viele Gründe, warum Amerikas Wirtschaft rund ein Prozentpunkt weniger wächst als im vorherigen Aufschwung. Es fehlten einfach neue Innovationen, es werde zu wenig investiert, heißt es dann mitunter. Oder die Privathaushalte nehmen zu wenig Kredit auf. Doch selbst wenn etwas dran sein sollte, so richtig überzeugen können diese Erklärungsversuche nur wenig.
Viel eher ist es so, dass die Regierung in den USA seit Jahren nichts anderes tut, als das Lohnwachstum der Beschäftigen im Keim zu ersticken. Die Logik dahin ist klar und einfach: Eine sinkende öffentliche Nachfrage lässt es gar nicht erst dazu kommen, dass die Löhne stärker steigen können. Solch eine Politik haben die Deutschen Anfang der 2000er Jahre meisterhaft vorgemacht, sie funktioniert besonders gut in der Krise. Fast ganz Europa macht es jetzt nach. Aber sie wirkt auch im Aufschwung wie aktuell in Amerika.
Es ist auch nicht so, als würden sich die Amerikaner einfach zu viele Sorgen um ihre Staatsschulden machen und deswegen ohne Sinn und Verstand ihre öffentlichen Ausgaben zusammenstreichen. Wäre dies tatsächlich das wahre Motiv der US-Politiker (besonders der Republikaner) gewesen, hätten sie am Ende einen Teil der Neuverschuldung einfach durch eine klügere Politik verschwinden lassen können. Wie diese Grafik zeigt, hätten sie alles unternommen, damit die Sozialtransfers an bedürftige Amerikaner endlich sinken:
Seit mindestens Anfang der 1970er Jahre haben die Amerikaner noch nie ihre Staatsausgabenquote (ohne Sozialtransfers) so stark und in kürzester Zeit gesenkt wie seit Beginn dieses Aufschwungs Mitte 2009: um 3,4 Prozentpunkte. Deshalb braucht sich niemand über diesen mickrigen Aufschwung wundern, den die USA derzeit noch erleben. In den 1990er Jahren ließ sich die Regierung immerhin noch doppelt so viel Zeit für Kürzungen in ähnlicher Größenordnung. Geholfen hat ihr sicherlich dabei der Aktienboom der New Economy. Er machte es einfacher, die öffentliche Nachfrage des Staates beständig wegzudrücken.
Dabei können wir nicht einmal unterstellen, dass sich derzeit nur eine sehr simple neoliberale Ideologie in den Köpfen der Staatslenker festgesetzt habe. Denn sie wissen einfach nicht mehr, was sie noch tun sollen. Wie sonst lässt sich zum Beispiel erklären, dass die Sozialtransfers noch immer fast drei Prozentpunkte über dem Durchschnitt des vorherigen Aufschwungs liegen? Genau das dürfte theoretisch den Neoliberalen doch überhaupt nicht passen.
In der Tat wäre es sinnvoller gewesen, die Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit oder Rüstung) und Investitionen in sinnvolle Projekte (wie Brücken oder Straßen) ab Ende 2011 ungefähr bei knapp mehr als 20 Prozent zu belassen. Denn das ist genau die durchschnittliche Ausgabenquote seit Anfang der 1930er Jahre. Zuletzt lag die Ausgabenquote aber nur noch bei 18,3 Prozent – Tendenz weiter fallend.
Fast 700 Mrd. Dollar hätten die Amerikaner bei einer Ausgabenquote von 20 Prozent seit Ende 2011 bis heute mehr verdient. Das Bruttoinlandsprodukt wäre höchstwahrscheinlich nach Abzug der Inflation um rund einen Prozentpunkt mehr gewachsen. Und der Clou dabei: Die Quote der Sozialtransfers läge garantiert nicht mehr bei 14,2 Prozent wie zuletzt – sondern hätte ein paar Prozentpunkte weniger ausgemacht.
Auch in Amerika erkennen wir sie, die Absurdität der Austeritätspolitik: Der Staat spart bei seinen Ausgaben, kann aber sein Defizit im Haushalt damit nicht senken, weil er weiterhin Sozialtansfers an Bedürftige zahlen muss. Bei allen Jubelmeldungen vom US-Arbeitsmarkt, vergessen wir nicht, dass die Beschäftigungsquote bei amerikanischen Männern vor der Krise noch bei 70 Prozent lag und bis heute nicht über 65 Prozent hinausgekommen ist. Fast könnten wir meinen, unsere neoliberalen „Freunde“ wollen ihre verkorkste Politik noch einmal auf die Spitze treiben, damit es auch der Letzte kapiert, in welch finsterste Sackgasse sie uns führt.
Dabei klagen die Amerikaner ähnlich wie die Deutschen über marode Brücken, Gleise oder Kanäle. Aber Infrastruktur, auch noch aus öffentlichen Mitteln finanziert, verbessert in der Orwell’schen Sprachakrobatik der Standortfanatiker auf beiden Seiten des Atlantiks schon lange nicht mehr die Wettbewerbsfähigkeit. Denn dazu zählen sie bekanntlich nur die Lohnhöhe, der Staat darf sich nur noch als wirkungsvoller Kostenoptimierer anbieten.
Dass die Einkommen der Beschäftigten in den USA seit Jahrzehnten real stagnieren, hat den Unternehmen in den USA natürlich geholfen trotz Austeritätspolitik sich etwas von der Großen Finanzkrise zu erholen. Glücklicherweise würgte niemand in den USA den Aufschwung so willkürlich und rabiat ab wie in Europa, wo „reformfaule“ Regierungen ganz „demokratisch“ auch heute noch unter Druck gesetzt werden.
Trotz mickriger Erholung legten die privaten Nettoinvestitionen in den USA seit 2009 dennoch enorm zu. Das klingt auf den ersten Blick nach Widerspruch, ist es aber nicht: Denn wir müssen die Produktion neuen Kapitals (z.B. Maschinen und Anlagen) – also die Kapitalakkumulation – immer im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt bewerten.
Nur am Einkommen aller Schichten einer Gesellschaft können wir ermessen, ob viel oder wenig Kapital in einem Aufschwung akkumuliert wird – selbst dann, wenn die Einkommen weniger stark wachsen als früher. Die statische Vergleiche mit Wachstumstrends vergangener Jahre, wie in den Mainstream-VWL-Modellen, helfen dagegen niemandem weiter.
Ein Blick auf die Grafik macht klar, dass trotz der stark anziehenden Nettoinvestitionen das Niveau der Kapitalakkumulation historisch gesehen immer noch extrem gering geblieben ist. Dies wird deutlich, wenn wir all die Jahre seit dem zweiten Weltkrieg zum Vergleich heranziehen. Aktuell geben die Unternehmen in den USA gerade einmal so wenig für neues Kapital aus, wie es an den Tiefpunkten noch jeder Rezession der Nachkriegszeit gemessen wurde.
Genau daran erkennen wir die Folge dessen, dass sich der Staat seit Anfang der 1980er immer weiter zurückzieht und die (Nicht)-Regulierung der Marktwirtschaft den Gewinnphantasien auf den Finanzmärkten überlässt. Natürlich konnte das nicht gut gehen. Deswegen erleben wir auch wieder Momente, in denen die Kapitalakkumulation wie in den 1930er Jahren (und den Krisen davor) komplett zum Stillstand kommt. Die Nettoinvestitionen in den USA sackten 2009 genau wie in Deutschland für kurze Zeit ins Negative.
Negative Nettoinvestitionen heißt aber nichts anderes, als dass die Volkswirtschaft einen Teil ihres bestehenden Kapitalstocks vernichtet. Unternehmen geben das Geld nicht aus, das notwendig wäre, um verschlissene Maschinen und Anlagen zu ersetzen. So eine schwere Krise hat es seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben, als die westlichen Gesellschaften eigentlich aus der Katastrophe der 1930er Jahre gelernt haben wollten. Sie setzten zunächst noch alles daran, dass die Massenkaufkraft durch die Staatsausgaben gestützt wird und die Kapitalakkumulation auch in Konjunkturkrisen nie zum Stillstand kommt. (Allerdings konnte auch dieses fordistische Wachstumsmodell der Goldenen Jahrzehnte des Kapitalismus nie ewig bestehen bleiben.)
Jetzt müssen wir aber erleben, wie der Staat in den USA seine Ausgaben so stark zurückfährt, dass wir selbst im neoliberalen Zeitalter des Finanzmarktkapitalismus seit Beginn der 1980er Jahre keinen passenden Vergleich mehr finden. Und das bedeutet nichts Gutes für die nächste Rezession: Massenarbeitslosigkeit und Deflation sind wieder die Mittel der Krisenbewältigung geworden. Der alte Laissez-faire Kapitalismus lässt grüßen.
Hier im Blog schreibe ich seit dem Sommer darüber, dass wir uns keinen Illusionen hingeben sollten. Die Kapitalexpansion in den USA wird nicht mehr lange anhalten. Denn in jedem Konjunkturzyklus kommt immer der Punkt, wo die Profitabilität (also die Gewinnmargen der Unternehmen) zu sinken anfängt und die Konjunktur dreht. Selbst wenn die Produktion neuen Kapitals bislang relativ zum Einkommen enorm gestiegen ist — dank stagnierender Löhne, Kapitalzuflüssen aus Europa und der ganzen Welt sowie des Frackingbooms — es zeichnet sich bereits seit Monaten ein Trend ab: Die Gewinnmargen in Amerika sinken (im Durchschnitt) bereits seit 2013. Eine Rückkehr zu den Niveaus der Neuinvestitionen wie vor der Finanzkrise sollten wir daher in diesem Aufschwung getrost vergessen.
Und weil sich der Staat derzeit so radikal zurückzieht aus der Steuerung der amerikanischen Wirtschaft, bräuchte es schon die famosen Wunder der finanzmarktinduzierten Nachfragesteuerung, also steigende Aktienkurse oder einen neuen Immobilien- und Kreditboom, um die heranziehende Rezession in den USA abzuwenden. Wahrscheinlich würde auch das kaum noch helfen in dieser akuten Krisenperiode der Ultra-Neoliberalismus.
Jeder Versuch der US-Notenbanker auch in der nächsten Krise mit Wertpapierkäufen ihre Wirtschaft zu stützen, wird dann nur noch in ausweglosen Abwertungswettläufen mit den Währungen der Europäer, Japaner und der Schwellenländer enden. Nach jetzigem Stand kann es nur heißen: Die nächste Krise in den USA wird kommen bevor die Löhne steigen, die Inflation anzieht oder die US-Notenbank ihre Zinsen erhöht. Europa steht bereits an der Kippe zur nächsten Rezession, viele Euro-Länder haben ihre Depression noch gar nicht überwunden.
Es wird aber noch viel schlimmer kommen, wenn jetzt bald auch Amerika in die Krise folgen wird. Bei so viel versteckter Arbeitslosigkeit in den USA, müssen wir alle fürchten, dass Ferguson nur der Anfang war, denn Ferguson ist überall.
Erinnern wir uns, wie die Weltwirtschaft – egal ob sie privatkapitalistisch oder staatskapitalistisch organisiert ist – seit Jahren an der absoluten und globalen Profitschranke des Geldvermögens entlangkriselt. Dann wird auch klar, warum überall die Löhne und die Massenkaufkraft nicht mehr steigen dürfen – egal was die Bundesbank sagt oder unsere postkeynesianischen Freunde tapfer fordern.
Die aktuelle Wirtschaftspolitik der westlichen Welt ist leider nicht nur einer falschen Ideologie in den Köpfen von Politikern und Ökonomen entsprungen, die sich schnell austauschen ließe, wenn nur die richtigen und „vernünftigen“ Leute das Ruder rumreißen.
Denn diese Wirtschaftspolitik erfüllt einen ganz bestimmten Zweck: Irgendwer muss unser aller Illusion Futter geben, dass die Geldvermögen auf der Welt sich vorübergehend noch irgendwie verzinsen lassen. Bei einem zum großen Teil fiktiven Finanzkapital von mehr als 300 Prozent des weltweiten Sozialprodukts geht das aber schon lange nicht mehr bzw. lässt sich nur noch in Finanzmarktblasen realisieren, die wiederum immer platzen müssen.
Wenn allein schon eine Verzinsung mit 1 Prozent das gesamte zusätzliche Jahreseinkommen der Welt für die Rendite der Geldvermögensbesitzer (wozu auch die Unternehmen gehören) auffressen würde, wird klar wie ausweglos die Lage erscheint. Genau deswegen dürfen die Löhne in den Industrieländern nicht mehr so stark steigen, wie es der Produktivität entsprechen würde (oder sie müssen sogar sinken) und die Massenkaufkraft, sie muss geschwächt werden.
Womit wir uns längst schnurstracks in den alten Katastrophen-Kapitalismus verabschiedet haben. Die Zeit läuft uns davon, in der wir uns noch Gedanken machen könnten, wie wir in einer postneoliberalen Gesellschaft den privatwirtschaftlichen Kapitalismus doch noch irgendwie retten und/oder vielleicht irgendwann einmal zu etwas Besserem weiterentwickeln könnten. Klar ist nur, dass dafür ein gewaltiger und globaler Vermögensschnitt notwendig ist, um diesen Übergang friedlich und sozial zu gestalten.
Nur auf eins habe ich heute, am 65. Jahrestag der verblichenen DDR und dem 62. Geburtstag von Wladimir Putin, überhaupt keine Lust: einen neuen Staatskapitalismus – egal, ob er nach der Marschrichtung Pekings, Moskaus, Le Pens, Orbans oder den Kleingeistern von der Professorenpartei errichtet wird. Die bürgerlichen Freiheiten möchte ich nach 25 Jahren „im Westen“ nicht mehr missen.
Und deswegen: Hey, Everybody!