Everybody knows the war is not over (Larry Summers’ secular stagnation edition)
Die Sorgen bei Politikern und Ökonomen wachsen von Tag zu Tag: Die große Industriestaaten könnten in eine „säkulare Stagnation“ geraten. Das heißt in eine Phase, in der kaum neue Jobs entstehen, – schlimme Jahre, die so nur einmal im Jahrhundert vorkommen. Die 1930er Jahre wären dann so eine Periode im 20. Jahrhundert gewesen und jetzt könnte ähnliches bevorstehen, so fürchten viele.
Larry Summers macht dafür vor allem das niedrige Zinsniveau (nach Abzug der Inflation) verantwortlich, das nicht einmal ausreiche genügend Wachstum und neue Jobs zu schaffen. Bei einem Vortrag im Februar nannte er viele plausible Gründe dafür. Auch den, dass die Einkommensverteilung derzeit so ausfällt, wie sie nun mal ausfällt, und er präsentiert uns diese Grafik:
Auch das Buch von Thomas Piketty enthält viele solcher Grafiken, die zeigen, wie die Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen wieder auf dem Niveau der 1930er Jahre angekommen ist.
Komischerweise fragt sich aber kaum jemand, warum die Zinsen an den Finanzmärkten und im Kreditgeschäft so niedrig sind, während zum Beispiel die nichtfinanziellen Unternehmen in Deutschland eine durchschnittliche Gewinnquote einfahren, die deutlich mehr ausmacht als die Verzinsung in der Finanzbranche:
Zuletzt waren es 10,2 Prozent im Jahr 2013 immerhin noch rund ein Prozentpunkt mehr als im Jahr 2000. Diese Marge ergibt sich – gemessen am Umsatz (oder genauer gesagt: am Produktionswert) – nachdem die Unternehmen ihre Kosten für Löhne, Abschreibungen und Vorleistungen gedeckt haben und bevor sie Zinsen bezahlt oder erhalten sowie Steuern und Abgaben gezahlt haben.
Ab September werden in der EU Forschungsausgaben nicht mehr als Vorleistungen gezählt sondern als Investitionen, dann fallen die Gewinnmargen sogar noch höher aus. Theoretisch könnten die deutschen Unternehmen jederzeit also neuen Kredit zu 2,5 Prozent aufnehmen und investieren wie die Weltmeister – bei den Gewinnmargen hätten sie im Prinzip die Zinskosten doch schnell verdient, könnte man meinen.
Aber so einfach ist natürlich nicht, denn Investitionen wachsen nur dann, wenn die Nachfrage mithält. Das tut sie aber nie ewig – kapitalistische Volkswirtschaften rutschen ohnehin alle paar Jahre in eine Krise. Aktuell zerstören aber die Regierungen vor allem in Europa noch immer die Nachfrage und damit auch die Möglichkeit, dass die Gewinnmargen steigen und neue Arbeitsplätze entstehen.
Nun hat die niedrige Verzinsung in der Tat damit zu tun, dass das Finanzvermögen auf der Welt (Summers nennt es in keynesianischer Tradition beschönigend die „Ersparnis“) in Privathaushalten und Unternehmen sehr groß geworden ist. Wie wir gesehen haben, macht es schon seit Jahren mehr als 300 Prozent des jährlichen Einkommens der Welt aus: bei 1 Prozent Verzinsung müsste der gesamte Einkommenszuwachs auf der Welt (von aktuell gut 3 Prozent) für die Verzinsung aufgebracht werden.
Die gesamten Finanzvermögen der Welt sind schon seit Jahren so groß geworden, dass es nicht mehr mit dem laufenden Einkommen verzinst werden kann. Das Geldvermögen stößt ständig an seine absolute und globale Profitschranke. Und das ist der eigentliche Grund, warum die Zinsen an den Finanzmärkten und für Kredit heute so niedrig sind – egal was die Notenbanken versuchen und noch weiterhin versuchen werden.
Nimmt zum Beispiel ein Unternehmen Kredit für Investitionen auf, kann es die Kreditzinsen nur aus dem Überschuss (also den Erlösen nach Abzug von Vorleistungen, dem Verbrauch des alten Sachkapitals – den Abschreibungen – und den Lohnkosten) bezahlen. Ein anderer Teil der Zinsen – ein eher kleinerer – zahlen die Beschäftigten, wenn sie Kredit für Konsumausgaben oder für den Bau eines eigenen Hauses bzw. den Kauf einer eigenen Wohnung aufgenommen haben. Dieser Teil der Zinsen muss also ebenfalls aus dem (Arbeits-)Einkommen beglichen werden. Vermögende, egal wie reich sie sind, können ihre eventuellen Zinsenverpflichtungen aus dem Einkommen bezahlen, das ihr Vermögen abwirft – egal ob es in Sachkapital oder (fiktiven) Finanzkapital angelegt wurde oder aus Arbeitseinkommen, wenn sie denn arbeiten gehen.
Zinsen müssen also immer aus Einkommen der Unternehmen (Gewinne) oder aus Löhnen und Gehältern bezahlt werden. Wenn das aber nicht mehr geht, entsteht nur die Illusion, als ob sich die Geldvermögen noch verzinsen könnten. Jeder der fürs Alter spart, ist heutzutage praktisch der Dumme – er wird auf kurz oder lang verlieren. Das nennt man dann Blasen an den Finanzmärkten – mittlerweile reden Summers & Co sogar von „rationalen Blasen“, die man wohl oder übel in Kauf nehmen müsse.
Die Vereinigten Staaten haben ihr mickriges Wachstum der vergangenen Jahre genau dadurch hinbekommen, indem die US-Notenbank den Besitzern des Geldvermögens etwas davon abgekauft hat, die wiederum das frische Geld in Aktien und Anleihen gesteckt haben: Die Kurse vieler Wertpapiere stiegen somit, was sich auch an wachsenden Gewinnen der Unternehmen ablesen ließ, die Bilanzen der Banken sanierte und so die Investitionen zumindest in Amerika anziehen ließ.
Jeder, der aber eins plus eins zusammenrechnen kann, der weiß, dass sich an den Finanzmärkten längst Blasen gebildet haben – egal, ob man sie nun rational oder irrational nennt. Es ist der Blase auch völlig egal, wie Ökonomen oder Notenbanker sie deklarieren. Warum sollen zum Beispiel Aktien mehr abwerfen als andere Finanzaktiva? Unterm Strich und am Ende null. Und jeder weiß, dass diese Blasen irgendwann platzen werden und die vorübergehende Illusion von Restverzinsung an den Finanzmärkten wieder verschwinden muss.
Wir wissen nur nicht, wann diese Blase platzen wird. Wir wissen nur, dass sie platzen oder auf anderem Weg das Vermögen vernichtet wird. Vielleicht bekommt ja die EZB tatsächlich noch die Chance, an dem Spiel teilzunehmen, wie es Mario Draghi gerade in Jackson Hole noch einmal bekräftigt hat. Was wir davon haben werden, bleibt aber sein Geheimnis.
Es wird sich nichts ändern daran, dass die Zinsforderungen nicht mehr erarbeitet werden können. Aber wie reagieren die Unternehmen darauf? Sie senken und drücken zumindest in den Industrieländern die Löhne – das versuchen sie ja immer, wenn eine Krise ausbricht. Die Frage ist nur, machen sie es in einem (leicht) inflationären oder in einem deflationären Umfeld.
Der erste Weg war das Konzept der keynesianischen Wirtschaftspolitik nach dem zweiten Weltkrieg und den zweiten erleben wir gerade jetzt – genau wie schon im Laissez-faire-Kapitalismus so werden auch heute wieder die Krisen gelöst. Denn die keynesianische Wirtschaftspolitik ist angesichts der absoluten und globalen Profitschranke der Geldvermögen an ihre Grenzen gestoßen worden.
Wir erleben derzeit keine Liquiditätsfalle, sondern wir stecken offensichtlch wie in den 1930er Jahren mitten in einer Vermögensfalle.
Unabhängig davon, ob es richtig und falsch ist, haben die Regierungen nichts besseres zu tun, als ihre Ausgaben zusammenzustreichen und somit die Nachfrage zu vernichten, die die Unternehmen bräuchten, um zu investieren. Wie schon in Deutschland zu Beginn des Jahrtausends wirken nicht einmal mehr die automatischen Stabilisatoren (Sozialausgaben, Steuern). Das passiert in Europa und auch in Amerika – allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Dahinter steckt wiederum die Idee, dass theoretisch die Gewinnmargen steigen und irgendwann die Investitonen anziehen könnten.
Wenn Unternehmen ihren Absatz wegen der wegbrechenden Nachfrage aber nicht mehr steigern können, senken sie nur die Löhne – was besonders einfach geht, wenn man vorher die Macht der Gewerkschaften gebrochen und die Arbeitsmärkte entsprechend flexibilisiert hat. Da aber dadurch die Nachfrage nochmals sinkt, geraten wir in eine Deflationsspirale – und die hat nicht einfach nur mit sinkenden Preisen (die sinken ja ständig) zu tun, wie uns der Herr Plickert in der FAZ weißmachen will – sondern mit sinkenden Löhnen.
Die Grafik stammt aus dem Kapital „A prolonged period of low real interest rates?“ (Olivier J Blanchard, Davide Furceri and Andrea Pescatori) im CEPR E-Book „Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures„.
Kann eine Rückkehr zur Politik der leichten Inflationierung der Ausweg sein, wie sie Summers und anderen vorschebt? Die Idee dahinter: Damit würde die Verzinsung der Geldvermögen (nach Abzug der Inflation) noch mehr sinken, die Realzinsen noch weiter ins Minus abrutschen und die Geldvermögen samt ihrer Zinsansprüche langsam entwertet werden.
Inflation entsteht aber nur dann, wenn bei gegebenen Angebot ständig mehr Nachfrage dazu kommt: Also entweder durch starke Gewerkschaften, die deutlich höhere Löhne durchsetzen als die Produktivität nahelegen würde oder durch die Regierungen, die ihre Ausgaben laufend hochfahren und damit dazu beitragen, dass die Löhne direkt und indirekt anziehen könnten. Da erster Punkt illusorisch ist (da können Postkeynesianer noch so sehr mahnen), bleiben nur noch die Regierungen.
Was passiert aber, wenn die Regierung ihre Ausgaben so weit wieder hochfahren würden, dass die Inflation anzieht und die Notenbanken es auch noch zulassen würden? Dann sinkt die Profitabilität in den Unternehmen. Denn auch die Staatsausgaben müssen immer aus Einkommen finanziert werden: also aus Gewinnen sowie Löhnen und zwar über Steuern oder neue Schulden.
Das würde aber nur dazu führen, dass Unternehmen die Löhne noch mehr drücken würden (sie erhöhen einfach die Preise stärker als die Löhne), denn sie müssen ja den Großteil der Zinsforderungen auf der Welt bezahlen bzw. verdienen sie daran, um sie als Gewinne auszuschütten. Eine Inflationierungspolitik (also eine Ende der Austerität, wie Draghi sie jetzt in Jackson Hole gefordert hat) wird kaum etwas bringen.
Es bleibt mehr als fraglich, ob heute ein Inflationspolitik wie im New Deal der 1930 Jahre in den USA ausreichen würde, dass sich die Lage am Arbeitmarkt zumindest stabiliert. Der Jobaufbau blieb damals verhalten, auch nachdem die zivilen Staatsausgaben in den USA 1933 und 1934 um 52 und 60 Prozent pro Jahr stiegen. Erst in der beginnenden Rüstungskonjunktur 1940 wurden die Jobzahlen des Jahres 1929 merklich übertroffen.
Doch wie hoch müsste die Inflation sein, die einerseits verhindert, dass neue Gewinne als Erspartes die riesigen Geldvermögen auf der Welt noch weiter aufblähen und zugleich die verhandenen Geldvermögen entwertet werden: Im Fall von Deutschland wohl mindestens 10 Prozent – und das über Jahre. Nur welche Regierung und welche Notenbank kriegt das heute noch hin, selbst wenn sie es wollte.
Als Alternative bleiben Finanzkrisen, bei den die Besitzer der Geldvermögen, ihre Forderungen verlieren oder eben Kriege, wo beides zerstört wird: Geldkapital und Sachkapital. Beides läuft aber nicht auf ein Ende des Kapitalismus hinaus, sondern die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen dürften eher dazu führen, dass ein Land nachdem anderen in Richtung Staatskapitalismus chinesischer, türkischer, Putinscher oder Orbanscher Prägung marschiert – mit entsprechenden Folgen für die Demokratie und Meinungsfreiheit. Keine rosigen Aussichten.
Eine weitere extrem unrealistische aber sozialere Alternative wäre ein globaler Vermögens- und Schuldenschnitt (zum Beispiel um 90 Prozent, wobei man auch gestaffelte Freibeträge berücksichtigen könnte). Zu diesen Schnitt müssten aber alle zustimmen oder die Notenbanken agieren als globaler Diktator. Es scheint also keinen vernüftigen Ausweg zu geben.
Und diesen Pessmismus hat selbst Larry Summers befallen, wenn er in dem neuen E-Book des CEPR zum Thema säkulare Stagnation schreibt:
„It is certainly possible that some major exogenous event will occur that raises spending or lowers saving in a way that raises the [full-employment real interest rate] FERIR in the industrial world and renders the concerns I have expressed irrelevant. Short of war, it is not obvious what such events might be. Moreover, most of the reasons adduced for falling FERIRs are likely to continue for at least the next decade.“
Es muss natürlich kein neuer Weltkrieg ausbrechen (der wie in den 30er Jahren die Stagnationsphase beendete), aber die kriegerischen Auseinandersetzungen werden wohl sicherlich weltweit zunehmen. Und wenn es jeder weiß, was jetzt kommt, dann fühlt man sich unwirkürlich an Karl Marx erinnert, der einmal schrieb: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“
Und Leonard Cohen mag zwar in seinem Song „Everybody Knows“ recht behalten, dass jeder weiß, die Armen bleiben arm und die Reichen werden reicher. Nur mit folgender Zeile hat er wohl vorerst leider unrecht: „Everybody knows that the war is over“. It is obviously not. Hoffen wir, dass Marx am Ende recht behält und die Menschheit irgendwie noch rechtzeitig die Kurve kriegt in der „lumpigen Farce“, die wir heute erleben.