Die absolute und globale Profitschranke des Kapitalismus
Es ist ein weitverbreiteter und beliebter Vorwurf an Politiker und Ökonomen: Der neoliberale Zeitgeist, der sich seit Beginn der 70er Jahre in der westlichen Welt ausgebreitet hat, sei dafür verantwortlich, dass die Vermögenden immer reicher werden und Einkommen der Beschäftigten kaum noch wachsen oder sinken. Deregulierung, Privatisierungen sowie Liberalisierung und Globalisierung der Finanzbranche, eine starke Fokussierung auf die Wettbewerbsfähigkeit der Lohnkosten – alles laufe nur in die eine Richtung, diesen Trend zu verstärken.
Gerade linke (oder keynesianische) Ökonomen – und neuerdings auch die Bundesbank – glauben daran, dass bei Ausschöpfung des Verteilungsspielraums, viele Probleme in der Marktwirtschaft oder speziell im Euro-Raum gelöst werden könnten. Man will zurück zum guten alten „Klassenkompromiss“, der vorsah, dass die Einkommen der Beschäftigten und der Kapitalbesitzer gleich stark wachsen. Dafür gibt es die einfache Formel: Löhne und Gehälter in einer Volkswirtschaft sollten im Trend jedes Jahr mit der Inflationsrate (oder der Zielinflationsrate) plus Produktivitätswachstum steigen. So würden alle davon profitieren, wenn die Wirtschaft immer produktiver wird. Nur geht das schon lange nicht mehr.
Was oft vergessen wird: Schon in den 1950er und die 1960er Jahren, im „Goldenen Zeitalter“ des Kapitalismus, stiegen die Schulden kräftig im Vergleich zum Einkommen der Volkswirtschaften. Die Verschuldungsdatenbank der BIZ liefert dafür die empirischen Belege, wie wir hier im Blog bereits voriges Jahr gesehen haben. Auf der anderen Seite heißt das aber nur, dass schon im sogenannten „Wirtschaftswunder“ der sozialen Marktwirtschaft (dieses Blog glaubt an keine Wunder mehr) die Vermögen der Wenigen stark gestiegen sind.
Das liegt daran, dass der Verteilungskompromiss natürlich keiner war und auch nie einer sein wird: Ein Einkommen von 1 Million Euro im Jahr bringt halt mehr, wenn es um 3 Prozent angehoben wird, als wenn 10 000 Euro um 3 Prozent steigen – alles ganz simpel. Wer sich heute aber über die riesigen Schulden in der Welt beklagt, muss sich zugleich über die riesige Ansammlung von Geldvermögen beklagen, die auf der ganzen Welt Verzinsung sucht – das ist auch alles sehr simpel.
Nach Berechnung von McKinsey lag 2012 das Volumen der weltweiten Finanzanlagen bei 225 Billionen Dollar – das sind 312 Prozent der damaligen Wirtschaftsleistung weltweit, also des Jahreseinkommens der ganzen Welt. Würde diese Forderungen in diesem Jahr im Schnitt auch nur mit 1,2 Prozent verzinst werden, würde der gesamte Einkommenszuwachs, den der IWF für dieses Jahr auf der Welt erwartet, in die Taschen der Vermögensbesitzer fließen, wobei allerdings noch kein einziger Beschäftigter entlohnt wäre. wobei natürlich das Einkommen von keinem einzigen Beschäftigten auf der Welt nominal gewachsen wäre. Und das bei einer globalen Inflationsrate von 3,5 Prozent!
Aber nur jemand, der heute deutsche Staatsanleihen kauft, würde tatsächlich eine Rendite von 1,2 Prozent akzeptieren. Damit wird leicht verständlich, woher nicht erst in jüngster Zeit der immense Druck auf die Löhne in den großen Industrieländern herkommt. Die Amerikaner, Briten und dann irgendwann auch die Deutschen, waren einfach nur die schnellsten. Und die Sparer sollten verstehen, warum ihre Zinsen weltweit heute so niedrig sind – es liegt nicht an den hilflosen Notenbanken. Denn diese Verzinsung muss ja irgendwer auf der Welt arbeiten oder erwirtschaften – es kann nicht auf dem Mars oder dem Mond passieren.
All der neoliberale Zeitgeist und auch die aktuelle Austerität ist nicht allein in den Köpfen von Professoren oder Hardcore-Liberalen erwachsen, sondern das ist alles schlussendlich das Ergebnis des wachsenden Verzinsungsdrucks der riesigen Vermögen – so sinnvoll mehr Wettbewerb auf bestimmten Produktmärkten auch sein mag. Die Regierungen in den USA und Europa geben gerade diesem Druck noch mehr nach. Denn sie versuchen, auch noch den keynesianischen Regulierungsstaat der Nachkriegszeit abzuschaffen – ihre Ausgaben zu senken und so die Löhne zu drücken.
Wie wir in der kleinen Serie zur Anatomie der nahenden Katastrophe empirisch gesehen haben, sind die Investitionsmöglichkeiten in jedem Konjunkturzyklus einer kapitalistischen Marktwirtschaft immer begrenzt – einfach weil jeder Zyklus einmal dreht. Deswegen fließt immer ein Teil des Einkommens – also vor allem die Gewinne und die Erträge aus angesammeltem Vermögen – in jede Form von neuem Kredit oder an die Aktienmärkte (beides kann und wird regelmäßig aufgeblasen). Und das passiert in jedem Konjunkturzyklus. Anders als vor 70 Jahren aber, wird heute in jedem Zyklus Geldvermögen permanent vernichtet. Ein Kreditpyramide wie vor 2007 half den Umstand erfolgreich aber nicht ewig zu kaschieren.
Die begrenzten Investitionsmöglichkeiten in der Realität sind ein wichtiger Grund dafür, dass die Geldvermögen (in Aktien, Anleihen und Krediten angelegt) so exponentiell wachsen im Vergleich zum Einkommen. Das liegt nicht etwa daran, dass wir unser Geld von Gold entkoppelt haben, wie einige Crashpropheten behaupten. Auch zu Zeiten des Goldstandards gab es zum Beispiel Wechsel, die auch nur Forderungen auf künftiges Einkommen darstellten. Das moderne Geld hat die Kapitalakkumulation (in Sachvermögen und Geldvermögen) nur ungemein erleichtert und eine ungeheure Dynamik des Kapitalismus ermöglicht.
Unser Geld ist in den modernen Volkswirtschaften komplett mit Forderung auf künftiges Einkommen gedeckt. Die Welt ist aber nicht mehr in der Lage diesen Forderungen nachzukommen: Wir haben die absolute und globale Profitschranke des Geldvermögens schon vor Jahren erreicht. Gewinne entstehen nur noch in den Unternehmen, aber nicht mehr im Finanzsystem. Deswegen wird heute in jedem Aufschwung Geldvermögen vernichtet und nicht nur in der Rezession. Wobei Regierungen und Notenbanken mit gutem Grund in den Konjunkturkrisen einen Komplettabsturz verhindern.
Die Folgen sind klar erkennbar: Die Krisen werden heftiger und für die Notenbanken und Regierungen immer schwerer abzufedern. Nur mit Mühe und Not schaffte es die US-Notenbank, dass überhaupt so etwas wie ein Aufschwung in Amerika zustande kam. Zieht die andere große Notenbank aber nicht mit, die in Europa, bauen sich zudem neue Krisenherde auf, die schlussendlich nur noch mehr dazu beitragen, dass überall auf der Welt die Kriegsgefahr zunimmt.
Auch der Ukraine-Konflikt kann nicht allein auf den „bösen“ Putin geschoben werden – der Konflikt hat mindestens zwei ökonomische Dimensionen: neue Absatzmärkte und Investitionsstandorte (Ukraine und vor allem Russland) sowie die Sicherung des Dollar als Weltwährung. Nur: Auch das wird nicht lange helfen, selbst wenn der Westen das System Putin hinter sich gelassen hat.
Wer aber den keynsianischen Regulierungsstaat erhalten will, in dem die Tarifparteien den Verteilungsspielraum ausschöpfen, und wo der Staat die Konjunkturkrisen weiter abfedern kann und soll, der muss zwingend über einen globalen Reset nachdenken. Ein Schuldenschnitt, der die Vermögen auf der Welt so deutlich reduziert, damit die Gewinne wieder sprudeln können.
Zum Beispiel kann das so passieren, indem bei allen Geldvermögen auf der Welt hinten eine Null gestrichen wird (ein Freibetrag von 100000 für jeden Sparer sollte drin sein) – es wäre eine Währungsreform mit knapp 90 Prozent Verlust. Und dann kann es wieder 50 bis 60 Jahre weitergehen – vielleicht. (Eine Hyperinflation müssten die Staaten auch erst einmal hinkriegen.)
Die ökonomische Vernunft würde dazu raten, den Vermögensschnitt sofort durchzuführen, wenn die nächste Krise ausbricht. Denn wir sollten alle wissen, was jetzt folgt: Wir brauchen nur 90 Jahre zurückzuschauen. Dem stehen natürlich die Einzelinteressen der Vermögenden entgegen sowie der Banken, die auch am Vermögensabbau mitverdienen. Zudem sind solche Eingriffe in Eigentumsrechte in einer Marktwirtschaft natürlich verfassungsrechtlich höchst umstritten.
Der Punkt ist nur, es wird nicht anders gehen, wenn wir zu einem friedlichen Zusammenleben zurückkehren wollen. Eine starke Lobby für den globalen Vermögensschnitt wären natürlich die Versicherungen und die Fonds, die in der Summe keine Rendite für ihre Kunden mehr erwirtschaften. Aber die suchen lieber den Sündenbock bei den Notenbanken. Und da die Menschen natürlich nicht vernünftig sind, muss wohl erst die Katastrophe (ökonomisch und in Form gesellschaftlicher Radikalisierung) her, die uns alle zur Einsicht bringen wird. Da kann einem ganz schön Angst und Bange werden.