Die Türken machen es wie Deutschland
Blenden wir die Brutalität der türkischen Polizei kurz einmal aus. Für alle Fans des deutschen Wachstumsmodells könnte es gleich sehr interessant werden. Viele reden davon, dass die Türken ihren (noch immer) leichten Aufschwung zum Teil auf Pump finanzieren. Was jetzt keine falsche Diagnose ist. Die Türken leben immer noch – bei allen politischen Rückfällen in feudale Zeiten – in einem aufstrebenden Schwellenland. Sie können den Import von Kapital also ganz gut gebrauchen. Nicht zuletzt zeigt sich das in den jährlichen Leistungsbilanzen.
Nur kurz zur Erinnerung: Die Leistungsbilanz misst den Zufluss (es gibt ein Bilanzdefizit) oder Abfluss (dann ist es ein Überschuss) an Kapital. Ein Defizit in der Leistungsbilanz sagt uns also, wie viele neue Schulden ein Land im Ausland aufnimmt. Damit kann es – vereinfacht gesagt – mehr Güter und Dienstleistungen importieren als es exportiert. Nun befürchten einige Analysten, dass dieser stetige Zustrom an Auslandsgeldern abreißen könnte – wegen der Unruhen. Das Kapital, das scheue Reh und so… Besonders, weil ein Großteil der Darlehen wohl recht kurzfristig ausläuft – und verlängert werden müsste.
Keine Frage, eine berechtigte Sorge. Bei einem Leistungsbilanzdefizit von um die 7 Prozent (des Bruttoinlandsprodukts) dieses Jahr droht ein heftiger Schock, wenn dieser Kreditzufluss mit einem Schlag aufhört. Und gegen ein plötzliches Versiegen der Kapitalströme ist die Türkei unter den großen Schwellenländern wohl am wenigsten abgesichert – wenn wir uns zum Beispiel die Devisenreserven bei der Notenbank anschauen. Gut, dass die Auslandsverschuldung gleichwohl keinen Grund zu Sorge bietet. Sie liegt bereits seit 2002 bei weniger als 50 Prozent des BIP – zuletzt waren um die 40 Prozent, wobei Ende 2012 ein Drittel auf die Banken des Landes entfiel.
Auch ein Blick auf die Gesamtverschuldung (im In- und Ausland) der Unternehmen und Haushalte zeigt zumindest eines ganz klar: Die Türken sind glücklicherweise noch weit entfernt von Schuldenständen, die den Süden Europas noch lange in der Krise gefangen halten werden. Bauboom am Bosporus hin- oder her. Verglichen mit Deutschland, befindet sich die Türkei gerade in der Mitte seiner Wirtschaftswunderjahre. Konkreter: Gemessen an den Privatverschulden zählen wir gerade das Jahr 1955 – nach deutscher Wunderrechnung.
(Deutsche Daten kommen von BIZ und Destatis)
Natürlich ist das alles kein Grund zum Jubeln. Wenn wir hören und sehen, was gerade in der Türkei abgeht. Aber noch schlimmer wäre es, wenn die Aufstände der städtischen Jugend und all der Zukurzgekommenen und Unzufriedenen der vergangenen Boomjahre dieses Land auch noch in eine tiefere Krise stürzen würden. Im Gegenteil: Eine fortlaufende Währungsabwertung könnte jetzt sogar positiv für Exporteure wirken. Güter und Dienstleistungen werden ja günstiger im Ausland dadurch.
Dabei müsste jetzt wohl nicht einmal der Internationale Währungsfonds eingreifen – so wie damals im Jahr 2001, als er noch die Regierung retten musste. Ganz im Gegenteil, seit Mai hat Ankara erstmals seit 52 Jahren keine Schulden mehr beim IWF. Der Staat steht gerade einmal mit netto 30 Prozent des BIP bei Investoren in der Kreide. Die Banken sind auch recht ordentlich durch die globale Finanzkrise gekommen. (Klar würde eine weitere Abwertung der Lira der griechischen Tourismusindustrie gar nicht gut tun – aber das nur nebenbei).
In diesem Sinne, kämpft weiter, Ihr Leute vom Taksim-Platz und alle die anderen! Deutschland hat 1968 seinen Aufbruch zu mehr Demokratie begonnen. Wollen wir hoffen, dass die Türken jetzt auch aufbrechen in ein neues Zeitalter (mit all den Phantomkämpfen, die wir Deutschen heute noch ausfechten). Ökonomisch dürfte eigentlich kein dramatisches Unheil mehr drohen. Selbst wenn es jetzt wieder etwas turbulenter werden sollte – auch auf den Finanzmärkten.