Crashkurs im Blindflug oder Wie Sparweltmeister Griechenland sogar die Schuldenbremse einhält und niemand weiß, seit wann
Langsam wird klar, warum die Deutschen ihre Schuldenbremse so schnell einhalten wollten. Aus Brüssel meldet die Kommission, die öffentlichen Haushalte haben die Vorgaben sogar krass übererfüllt: Der laut Schuldenbremse relevante Überschuss lag 2012 nach neuester EU-Schätzung bei 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dabei ist eigentlich noch ein kleiner Defizitpuffer von 0,5 Prozent erlaubt (0,35 Prozent für den Bund ab 2016 und für den Gesamtstaat ab 2020). Wäre schon sehr peinlich geworden, wenn ausgerechnet die Griechen oder andere Krisenländer noch vor den Deutschen die Schuldenbremse eingehalten hätten. Ein Scherz? Vielleicht, vielleicht aber auch nicht!
Darüber, warum Deutschland, das als halbwegs gesunde Wirtschaftsmacht der Währungsunion gilt und dessen Regierung immer noch Minizinsen zahlen muss, mitten in der Krise seine Sparvorgaben übererfüllt, wollen wir hier erst gar nicht anfangen zu reden. Ändern wird sich an dem Irrsinn so schnell sowieso nur wenig. Vielmehr geht es hier um eine Lehrstunde, wie die Griechen allen Europäern vorführen, wie man die eigene Wirtschaft am schnellsten kaputt schrumpft.
Mittlerweile hält doch tatsächlich der hellenische Staat – als erster der Krisenstaaten – die Schuldenbremse nach deutschem Vorbild ein, die jetzt auch in fast ganz Europa gelten soll. Nach offizieller Rechenweise der Kommission: eine Punktlandung mit nur noch 0,5 Prozent Defizit – das strukturelle, dem wir uns hier gleich noch widmen werden. Das absehbare Lob aus Berlin, werden sich die Griechen ohnehin wohl lieber dorthin stecken, wo es am wenigsten riecht. Doch selbst dieser „Fortschritt“ könnte sich sogar noch als untertrieben erweisen.
Im Vergleich zum Jahr 2011 hat Griechenland demnach seinen Haushalt vergangenes Jahr effektiv um 4,2 Prozentpunkte konsolidiert. Das macht seit 2009 bereits einen Defizitrückgang um 14,3 Prozentpunkte. Man kann hier wieder den bereits bekannten Vergleich mit Deutschland heranziehen: Hierzulande hätten die Einsparungen und Steuererhöhungen im Ausmaß wie in Griechenland zu einem Spareffekt von 340 Mrd. Euro geführt. Dass auch dieses Land ganz sicher in seinen Grundfesten zerstört worden wäre wegen des daraus folgenden Konjunktureinbruchs, das dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Griechenland hat gerade sein erstes Jahr Deflation hinter sich – die Preise in der Gesamtwirtschaft sind 2012 um 0,7 Prozent gesunken (BIP-Deflator).
Sicher, die Kommission errechnet regelmäßig wie stark die Staatsdefizite allein wegen einer Konjunkturkrise hochschnellen, also weil Staaten mehr für Arbeitslosenunterstützung ausgeben oder die Steuereineinahmen weg brechen. Laut EU-Kommission macht dies in Griechenland mittlerweile 5,9 Prozent des BIP (von 6,6 Prozent) aus. Dies sind dann schon zweieinhalbmal soviel wie im Jahr 2010 und 1,4 Prozentpunkte mehr als im Vorjahr. Wirkt auf den ersten Blick wenig, ist es höchst wahrscheinlich auch. Aber wie wir gleich noch sehen werden, weiß das keiner so genau.
Zieht man vom jährlichen Defizit eines Staates die eben beschriebene Konjunkturkomponente ab (sowie „einmalige und befristete Maßnahmen“), landen wir auch schon beim strukturellen Defizit, das ist wiederum für die Schuldenbremse relevant. Nun ist es für die breite Öffentlichkeit ohnehin kaum nachvollziehbar, wie die Kommission regelmäßig zur ihrer Aufteilung in Strukturdefizit und Konjunkturdefizit kommt. Ökonomen können wenigstens noch die Excel-Tabellen auf der Webseite der Kommission durchforsten, um daraus ihre Schlüsse zu ziehen.
Dieter Wermut hat aber bereits im Herdentrieb einmal vorgerechnet, wie beliebig das Verfahren Dank etlicher Stellschrauben sein kann. Kein Wunder also, wie heftig die Kommission mitunter in kürzester Zeit ihre Schätzungen revidiert – verlassen kann sich darauf jedenfalls keine Regierung, die sich irgendwie an der Schuldenbremse oder die Vorgaben der Kommission halten will.
Gleichwohl ist es ernüchternd, dass die Kommission mittlerweile anerkennt, wie stark sich die langfristigen Aussichten der griechischen Wirtschaft verschlechtert haben. Dabei geht es um das sogenannte Produktionspotenzial, das sich aus einer Reihe von langfristigen Strukturgrößen errechnen lässt. Ging die Kommission noch im Frühjahr vergangenen Jahres von einem Schrumpfen des Potenzials um 2,3 Prozent aus, liegt ihre aktuelle Schätzung für 2012 sogar bei minus 3,2 Prozent.
Gut möglich, dass wegen der steigenden Arbeitslosigkeit oder wegen schrumpfenden Investitionen durchaus eine Revision von fast einem ganzen Prozentpunkt innerhalb von weniger als einem Jahr nötig gewesen war. Doch das allein ist bereits ein Eingeständnis, wie stark die zu harschen Austeritätsprogramme die Wachstumsaussichten des Landes zerstört haben. Weil das Land zu stark und in kürzester Zeit sein Staatsbudget saniert hat, wurde alles nur noch schlimmer, jedes Defizitziel wurde gerissen und wieder gerisssen.
Es könnte jedoch noch schlimmer kommen. Die ganze Rechnerei hat nämlich noch einen zweiten Teil: Um das Konjunkturdefizit zu schätzen, schaut die Kommission auf die Lücke zwischen tatsächlichem und potenziellem Bruttoinlandsprodukt – auch Output-Gap genannt. Dabei geht sie davon aus, dass das Konjunkturdefizit einem bestimmten Prozentsatz dieser Produktionslücke entspricht.
In Griechenland nimmt sie mechanistisch an, dass es seit 2001 konstant 47 Prozent sind. Soweit so gut, möchte man meinen, beruhen die Budgetsensitivitäten, wie Fachleute diesen Faktor nennen, doch auf seriösen Schätzungen der Industrieländerorganisation OECD – Grundlage sind Daten aus mehr als 20 Jahren.
Doch weit gefehlt. Könnte man in Deutschland noch annehmen, dass sich seit 2001 wenig verändert hat an diesem Faktor, muss dies für Griechenland nicht unbedingt gelten – so große konjunkturelle Defizite und Produktionslücken wie derzeit gab es dort ja noch nie. Das Pikante dabei, die OECD-Schätzung wurde bereits 2005 veröffentlicht, ja auch die Bundesregierung benutzt sie, und sie beruht auf Daten aus den Jahren 1980 bis 2003. Auch das letzte Update der Kommission stammt ebenfalls aus dem Jahr 2005. Wie es aussieht, rechnet die Kommission in Griechenland mit einer zehn Jahre alten Schätzung!
Was wäre also, wenn es in Griechenland gar nicht 47 Prozent sind, sondern vielleicht doch 60 Prozent wie in Dänemark. Könnte doch sein, dass in dieser heftigen Krise die Produktionslücke sich in Wirklichkeit viel stärker im Defizit niederschlägt als bisher angenommen. Nur, das weiß niemand, es wurde ja offenbar seitdem nicht mehr neu geschätzt. Bleiben wir zum Spaß einfach mal bei den 60 Prozent. Wenn das Konjunkturdefizit in der Schätzung mit dem 47-Prozent-Faktor bei 5,9 Prozent (von insgesamt 6,6 Prozent) gelegen hat, wären es bei einem Faktor von 60 Prozent bereits 7,4 Prozent Konjunkturdefizit (und weiterhin 0,3 Prozent „einmalige und befristete Maßnahmen“).
Strukturell hätte Griechenland bereits einen Überschuss von 1,1 Prozent, der nur dazu dient, das Konjunkturdefizit mitzufinanzieren – also den Wachstumseinbruch. Und die Wirtschaft wäre in den vergangenen drei Jahren mit einer Konsolidierung von 15,9 Prozentpunkten mitten in der Rezession noch stärker abgewürgt worden als bisher gedacht. Wie gesagt, wir wissen es nicht genau. Die Verwirrung über die verschiedenen Defizitmaße der Kommission lässt sich auch in Box 1. Greece’s uncertain fiscal position (Seite 3 in „Why is the Greek economy collapsing? A simple tale of high multipliers and low exports“ von Cinzia Alcidi und Daniel Gros) nachlesen.
Wenn wir jedoch noch einmal zu dem am Anfang vorgenommenen Vergleich mit Deutschland zurückkommen wollen: Statt der hypothetischen 340 Mrd. Euro hätte die Bundesregierung ihren Haushalt bei einem vergleichbaren Sparprogramm sogar um 380 Mrd. Euro konsolidiert in den vergangenen drei Jahren.
Wollen uns die Leute in der Kommission und der Bundesregierung also weismachen, dass im beeindruckenden Geständnis des IWF alles Quatsch ist, dass die Wirkung der Austeritätsprogramme auf das Wachstum doch nicht so heftig unterschätzt wurde? Wollen uns diese Leute also weismachen, dass die Schuldenbremsen irgendwie sinnvoll sein könnten, obwohl sie auf kaum nachvollziehbaren Stukturdefiziten sowie offensichlich veralteten Schätzungen basieren? Wollen uns diese Leute weismachen, dass mit dem Fiskalvertrag, der die Schuldenbremsen in fast ganz Europa festschreibt, das Vertrauen bei den Investoren dauerhaft zurückkehren werde – etwa weil jeder einzelne Investor sich alle vier Monate durch komplizierte Potenzialschätzungen der Kommission durchkämpft? Wollen sie uns weißmachen, wir hätten jetzt ein robustes Fundament für eine regelbasierte Fiskalpolitik im Euro-Raum?
Mit dem Abwracken ganzer Landesteile haben die Deutschen nach 1990 bereits ausreichend Erfahrung in ihrem wiedervereinigten Zuhause gesammelt. Blöd nur, dass sie daraus nichts gelernt haben. Behauptet allerdings wahrscheinlich auch niemand, dass die Bundesregierung überhaupt jemals daraus Lehren ziehen wollte.
Sehr interessanter Artikel, ich konnte alles nachvollziehen bis auf
„Behauptet allerdings wahrscheinlich auch niemand, dass die Bundesregierung überhaupt jemals daraus Lehren ziehen wollte.“
Es sind doch Lehren gezogen worden: wie man sowas ausnutzt, um Sozialgesetzgebung zu schleifen und Löhne ‚im Westen‘ zu drücken, wurde da das erste Mal durchexerziert und nun werden diese Lehren in etwas grösserem Massstab angewandt.