Merkel im Blindflug nach Washington – während sich die Ostukraine auf den Bürgerkrieg vorbereitet
Freitag vor einer Woche hat die Bundesregierung eine bemerkenswerte Wende in ihrer Kommunikationspolitik seit dem Genfer Abkommen zur Ukraine vollzogen. Außenminister Steinmeier veröffentlichte erst eine Pressemitteilung, in der Kiew und (!) Moskau an ihre Verantwortung erinnert wurden, den in Genf beschlossenen Weg einzuleiten (!) und in der er beide Seite zum Verzicht auf Gewalt aufforderte. Wir erinnern uns, Kiew hatte gerade erst seine „Anti-Terror-Operation“ (mit Rückendeckung der USA) wieder aufgenommen, was am Donnerstag erste Todesopfer gefordert hatte.
Für die Kanzlerin war zu dem Zeitpunkt aber schon längst klar: „Selbstverständlich bleibt auch die ukrainische Regierung aufgefordert, ihren Teil der Vereinbarung umzusetzen; aber es ist offensichtlich, dass sie sich von Anfang an die Arbeit gemacht hat“, ließ sie ihren Sprecher Steffen Seibert auf der Regierungspressekonferenz am Freitag sagen. Wenig später äußert sich Merkel selbst dazu: „Russland hätte davon bin ich zutiefst überzeugt die Möglichkeit, die Separatisten in der Ukraine auf einen friedlichen Weg der Verfassungsdiskussion und der Wahlvorbereitung zu bringen. Solche Signale sind bis jetzt leider ausgeblieben.“ Mit dem letzten Punkt hat Merkel durchaus recht, aber vergessen wir nicht, Kiew hatte einen Tag zuvor mit der Wiederaufnahme der „Anti-Terror-Operation“ das Abkommen bereits klar gebrochen!
Die sehr „eigenartige“ Bewertung der Ereignisse durch die Bundesregierung begann aber so richtig erst in dieser Woche – also wenige Tage bevor die Kanzlerin nach Washington abgereist ist. Am Montag wiederholte Seibert: „Fortschritte bei der Umsetzung der Genfer Vereinbarung sehen wir in der Tat nur aufseiten Kiews“. Kiew habe nichtstaatliche Gruppen entwaffnet und Gebäude seien einvernehmlich geräumt worden. Zudem habe die ukrainische Regierung einen Verfassungsprozess aufgenommen, bei der auch eine Roadshow mit Beteiligung der Regionen geplant sei. Auch hätte die Regierung in Kiew ein Amnestiegesetz auf den Weg gebracht, hieß es einen Tag später aus Berliner Regierungskreisen – nachdem kein einziger der auf Pressekonferenzen anwesenden Journalisten-Kollegen überhaupt einen leisen Zweifel an der Version der Kanzlerin gehegt hatte.
Kerry macht eine Ansage und im Westen folgen sie ihm wie die Lemminge
Was war geschehen? Warum schießt sich die Bundesregierung plötzlich auf Moskau ein, während ihr Außenminister die ganze Woche nach Ostern noch dafür warb, der OSZE mehr Zeit einzuräumen, die Genfer Vereinbarung umzusetzen? Nun, die Antwort ist einfach: John Kerry, der US-Außenminister, hat am Donnerstag die klare Linie vorgegeben, an die sich seitdem alle Regierungschefs der G7-Staaten fast eins-zu-eins halten. Zuvor hatte noch Russlands Außenminister Sergej Lawrow in Englisch ein Interview dem russischen Auslandssender RT gegeben. Es lohnt sich beides genau zu studieren, Lawrows Interview und Kerrys Stellungnahme, um zu sehen, dass vielleicht doch nicht alles so eindeutig aussieht, wie erst Washington und seitdem auch Merkel die Politik Kiews darstellen.
Auf zwei wichtige Punkte möchte ich hier eingehen, die mir sehr wichtig erscheinen. Zum einen beanstandet Lawrow, dass das angekündigte Amnestiegesetz keine Freilassung von politischen Gefangenen vorsieht. Also von Politikern, die genau das fordern, was die Separatisten und Föderalisten (und sonstigen Gestalten in der Ostukraine) mit Waffengewalt durchsetzen wollen: Eine Föderalisierung der Ukraine. Das Gesetz soll nur für die gelten, die Waffen abgeben und Gebäude räumen, wie selbst Kerry einräumt („Prime Minister Yatsenyuk has publicly announced amnesty legislation – once more, in his words – for all those who surrender arms, come out of the premises“).
Doch wie bereits erwähnt, wäre die Freilassung der politischen Gefangenen eine Geste des guten Willens gewesen. Dass sie bisher ausgeblieben ist, sollten wir zumindest auch beachten (nicht die Geiselnahmen rechtfertigen), wenn wir an die festgesetzten Militärbeobachter der Bundeswehr und die Journalisten und anderen Gefangenen in den Händen der Separatisten und Föderalisten denken.
Ein wichtiger Unterschied: Dezentralisierung oder Föderalisierung
Der zweite wichtige Punkt betrifft die Verfassungsreform. Am Mittwoch meldete zum Beispiel „Spiegel Online“ (und andere Medien), Übergangsministerpräsident Jazenjuk würde am 25. Mai über eine Föderalisierung des Landes abstimmen lassen wollen: „In der Befragung solle es um die nationale Einheit und eine Föderalisierung gehen“, schreibt SpOn. Doch das ist so nicht richtig. Denn wie Jazenjuk sagte, will er gar nicht über eine Föderalisierung abstimmen lassen, sondern: «Это вопрос единства, территориальной целостности государства и децентрализации власти». („Das ist die Frage der Einheit, der territorialen Ganzheit des Staates und die Dezentralisierung der Macht“). Dazu muss man wissen: Das, was Kiew unter Dezentralisierung der Macht versteht, stimmt eben nicht mit dem überein, was Moskau und die Kräfte im Osten unter einer Föderalisierung verstehen.
Den Föderalisten und Moskau schwebt ein loser Bund der Regionen vor, die auch über ihre außenwirtschaftlichen Beziehungen selbständig entscheiden (z.B. mit wem sie Freihandel führen) – Kiew will dagegen nur etwas von seiner Macht an die Regionen abgeben, wichtige Fragen sollen weiterhin von Kiew aus bestimmt werden – also im Grunde genommen wie in all den Jahren seit der Unabhängigkeit der Ukraine (was dem Land gar nicht gut bekommen ist). Das ist aber genau der Kern des Konflikts. Es geht gar nicht um eine Angliederung an Russland, wenngleich dies bestimmte Gestalten im Osten auch fordern – was Moskau aber gar nicht will.
Hinzu kommt, dass Kiew noch immer nicht bereit ist, Russisch als zweite Staats- oder Amtssprache in die Verfassung schreiben zu lassen, was selbst Kerry zugibt („a special status to the Russian language„). Jazenjuk sprach am Mittwoch von zusätzlichen Garantien („готово к дополнительным гарантиям„). Doch warum will er noch immer nicht Russisch als zweite Amtssprache einführen? Wo liegt das Problem?
Wie Merkel am Kernkonflikt vorbeiredet
Jedenfalls kann man sich nicht hinstellen und so dermaßen am Kern der Konflikts vorbeireden wie die Kanzlerin am Mittwoch und behaupten: „Es ist wichtig, die Verfassungsdiskussion in der Ukraine voranzubringen, auch in Bezug auf Elemente der Dezentralisierung. Ich habe heute mit dem ukrainischen Premierminister Jazenjuk darüber gesprochen. Dieser Verfassungsprozess wird durchgeführt. Es gibt umfassende Diskussionen, und man kann damit rechnen, dass ein Entwurf für eine solche Verfassung in der nächsten Woche auch schon sehr weit gediehen sein wird.“
Auch diese Aussagen Merkels meinen etwas völlig anderes, als Steinmeier in seinem Brief an die OSZE gefordert hatte. In dem Schreiben brachte er Runde Tische ins Spiel, die „auf der einen Seite die prorussischen Separatisten und auf der anderen Seite die Vertreter des ukrainischen Staates“ zusammenbringen sollten. Übrigens wird Steinmeiers Initiative noch immer von Lawrow unterstützt.
Merkel fällt Steinmeier in den Rücken
Doch Merkel fällt nicht nur ihrem und dem russischen Außenminister in den Rücken, sie ergreift hier einseitig Partei in einer Verfassungsfrage, die nur die Ukrainer etwas angeht. Sie unterstützt offenkundig die sture Haltung Kiews. Mit ihrem Gerede bricht auch Merkel mit dem Geist des Genfer Abkommens!
Es ist nun einmal so: In den zentralen Verfassungsfragen bleiben Kiew (mit Rückendeckung Washingtons und Merkels) und die Föderalisten (mit Rückdeckung Moskaus) stur. Genau über die Fragen sollte es deswegen einen gesamtgesellschaftlichen Diskussionsprozess geben, so wie in Genf beschlossen! Und der ist bis heute nicht in Gang gekommen und wird kaum bis zum 25. Mai beendet werden können, selbst wenn sie endlich reden würden.
Das will die USA in der Ukraine: „The fact is that our entire model of global leadership is at stake“
Warum stellt sich also Berlin hier auf eine Seite? Es ist einfach nur unbegreiflich. Hinzu kommt, dass die Amerikaner es nach jetzigem Stand nie zulassen werden, dass sich Moskau mit seinen Vorstellungen auch nur einen Millimeter durchsetzen wird. John Kerry hat es am Dienstag deutlich ausgesprochen, worum es den Amerikanern in der Ukraine tatsächlich nur noch geht: „The fact is that our entire model of global leadership is at stake.“ Russlands Motive sollten mittlerweile jedem klar sein: Moskau will sein Einflussgebiet nicht verlieren und verhindern, dass die Ukraine der Nato und der EU beitritt. Was die Amerikaner wollen, das ist spätestens (!) seit dieser Woche auch völlig klar. Niemand darf auf ihrer Nase rumtanzen, auch nicht in der Ukraine. Die Vereinigten Staaten sind da völlig humorlos und zu keinen Kompromissen bereit.
Und damit kann man nur noch deutlich sagen: Wer auch immer das Wort „Neoimperalismus“ im Zusammenhang mit Putin in den Mund nimmt, der ist ein dummdreister Kriegstreiber. Der vertritt nicht die Interessen Europas (Frieden und Handel) und schon gar nicht die Interessen der deutschen Wirtschaft oder einzelner Unternehmen. Der Übergangspräsident der Ukraine setzt bereits auf Freiwilligenmilizen, in Dnjepotrwosk baut der „Rechte Sektor“ bereits das Bataillon „Donbass“ auf (siehe auch Ria Nowosti). Die ARD-Journalistin Golineh Atai hat ähnliche Typen am Wochenende besucht. Einige der prorussischen Gestalten agieren derweil immer brutaler und blutiger – seit dem Donnerstag, als „Anti-Terror-Operation“ wieder aufgenommen wurde und die G7-Staaten Russland einseitig für den Bruch des Genfer Abkommens verantwortlich machen.
Merkel hat noch eine Chance – wenn sie denn überhaupt will
Bald werden wir wohl nur noch von proamerikanischen und prorussischen Truppen in der Ostukraine sprechen können – Merkel ist die einzige, die den Irrsinn vielleicht (!) noch stoppen kann. Bislang fehlt noch immer jedes Bekenntnis zum Dialog aus Washington. Beim Treffen mit Obama hätte sie jedenfalls wohl noch die letzte Chance dazu, die Amerikaner zu überzeugen. Sollte Merkel aber nach dem Treffen so weiter reden wie bisher, dann sollten sich die Sozialdemokraten sehr gut überlegen, mit wem sie hier eigentlich noch koalieren. Und die deutschen Unternehmen sollten sich sehr gut überlegen, ob sie der CDU noch einen einzigen Euro spenden wollen.