Blog

WikiSubjektiv: Dieses banale Jahreswachstum oder Lasst uns doch nicht über vorigen Winter reden

Morgen, am Mittwoch, ist es wie jeden 15. Januar im Jahr wieder soweit. Die Statistiker von Destatis laden mit großem Tamtam nach Berlin Wiesbaden, wo sie die Wachstumsrate für das Gesamtjahr 2013 veröffentlichen wollen. Wahrscheinlich werden die Medien gut gefüllt sein mit dieser Neuigkeit. Jeder, der meint, was sagen zu müssen, wird sich garantiert auch äußern. Dabei ist jetzt schon klar, dass die angeblich so magische Zahl mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit bei 0,5 Prozent liegt – im Jahr zuvor war es noch 0,7 Prozent.

Und nicht nur das: Der Privatkonsum könnte 2013 um rund ein Prozent zulegt haben. Die Staatsausgaben um gut ein halbes Prozent. Der Export dürfte leicht weniger gewachsen sein als der Import – wahrscheinlich 0,7 Prozent gegenüber rund einem Prozent bei den Einfuhren. Und die Ausrüstungsinvestitionen könnten um rund 2 Prozent eingebrochen sein. Auch, wenn die einzelnen Details nicht ganz so exakt vorhersehbar sind wie das BIP, so ist schon jetzt vieles sehr klar.

Ein Anlass, hier im Blog das Jahr mit etwas Mathematik zu beginnen. Aber keine Angst, sie wird niemand überfordern, wir bewegen uns immer noch in der Welt der einfachen  Grundrechenarten. Und am Ende wird hier jeder mit etwas Hokuspokus seine eigene Jahresprognose erstellen können – so wie wahrscheinlich jede Menge Bankanalysten es mit ihren Excel-Sheets hervorzaubern.

Vielleicht werden sich jetzt einige fragen, wie die Statistiker nur 15 Tage nach Jahresende bereits so schnell eine recht zuverlässige Wachstumszahl liefern können. Auch unter Beachtung saisonaler Schwankungen, müsste doch die Wirtschaftleistung in jedem vierten Quartal noch immer rund ein Viertel des Wirtschaftsleistung eines Jahres ausmachen. Auf den ersten Blick stimmt das natürlich, doch wie wir gleich sehen werden, hat das vierte Quartal (mit seiner Wachstumsrate zum Vorquartal) gerade einmal ein Gewicht von rund 6 Prozent im Gesamtwachstum eines jedes Jahres.

Ein Blick auf folgende Grafik macht dies bereits deutlich. Zum einen können die Statistiker natürlich das Bruttoinlandsprodukt alles Quartale eines Jahres addieren und dann mit dem Wert des Vorjahres vergleichen. Nehmen wir an, dass die deutsche Wirtschaft im Schlussquartal 2013 mit 0,3 Prozent gewachsen ist – wie es das DIW schätzt. In Preisen des Jahres 2005 kommen wir dann auf eine Wachstumsrate von 0,5 Prozent für das vergangene Jahr: 2.484,4 Mrd. Euro dividiert durch 2.471,7 Mrd. Euro ergibt einen Anstieg auf das 1,005-fache oder um 0,5 Prozent.

140114 BIPWACHSTUM

Zu dem gleichen Ergebnis kommen wir jedoch auch, wenn wir die saison- und preisbereinigten Quartalswerte nehmen (die findet man bei Eurostat, bestimmt auch irgendwo bei Destatis). Daraus können wir folgende Jahresdurchschnitte für 2012 und 2013 bilden – für das Jahr 2012 in Mrd. Euro:

(623,1 + 616,2 + 617,0 + 615,4) / 4 = 617,9

 Und für das Jahr 2013 in Mrd. Euro:

 (613,2 + 621,7 + 623,7 + 625,8*) / 4 = 621,1

*errechnet nach DIW-Schätzung

Die Jahresrate lässt sich dann ähnlich wie oben berechnen: 621,1 Mrd. Euro dividiert durch 617,9 Mrd. Euro ergibt einen Anstieg auf das 1,005-fache oder um 0,5 Prozent. Es spielt also keine Rolle, ob wir hier Jahressummen oder Jahresdurchschnitte betrachten. Übrigens: Den Abstand des letzten Jahreswerts (vom 4. Quartal 2013) zum Jahresdurchschnitt – das nennen Statistiker und Ökonomen den „statistischen Überhang“. Man könnte auch sagen, das ist das Wachstum, das wir bereits im Kasten haben, falls die deutsche Wirtschaft im Jahr 2014 zum Beispiel aufhören würde zu wachsen (was sehr unwahrscheinlich ist) und einfach stagniert.

Konkret liegt der statistische Überhang für dieses Jahr in Mrd. Euro – viertes Quartal minus Jahresdurchschnitt – bei:

625,8 minus 621,1 = 4,7

Der statistische Überhang ist dann ganz einfach 4,7 Mrd. Euro dividiert durch 621,1 Mrd. Euro gleich 0,008 oder 0,8 Prozent. (Oder alternativ 625,8 Mrd. Euro dividiert durch 621,1 Mrd. Euro gleich 1,008 oder ein Plus von 0,8 Prozent). Das heißt nichts anderes, als das wir jetzt schon 0,3 Prozentpunkte mehr Wachstum für das Jahr 2014 im Kasten haben als die deutsche Wirtschaft im Jahr 2013 gewachsen ist. Somit wird bereits deutlich, wie wenig aussagekräftig solche Jahresraten tatsächlich sind, die Destatis morgen veröffentlichen wird.

Wir können uns die Bedeutungslosigkeit der durchschnittlichen Jahresraten auch so klar machen: Die Wirtschaftsleistung ist zwischen dem ersten Quartal 2012 und dem ersten Quartal 2013 um 1,6 Prozent geschrumpft. Dagegen ist sie zwischen dem vierten Quartal 2012 und dem vierten Quartal 2013 aber bereits wieder um 1,7 Prozent gewachsen. Letzte Zahl erinnert verdächtig an die derzeit gängigen Prognosen für dieses Jahr 2014 – das nur nebenbei. Wichtig ist dabei, dass hinter dem Wachstumsrückgang von 0,7 auf 0,5 Prozent, den Destatis morgen für die Jahre 2012 und 2013 bekannt geben wird, in Wahrheit eine erhebliche Wachstumsbeschleunigung steckt: von minus 1,6 auf plus 1,7 Prozent (in den Raten zum jeweils gleichen Quartal des Vorjahres).

140114 BIPWACHSTUM2

Um die Dynamik besser zu begreifen, schauen wir uns einfach die Raten jeweils im Vergleich zum gleichen Quartal des Vorjahres genauer an:

1. Quartal 2013 / 1. Quartal 2012 = -1,6 Prozent
2. Quartal 2013 / 2. Quartal 2012 =  0,9 Prozent
3. Quartal 2013 / 3. Quartal 2012 =  1,1 Prozent
4. Quartal 2013 / 4. Quartal 2012 =  1,7 Prozent

Der Mittelwert dieser Raten liegt übrigens bei 0,5 Prozent, womit wir wieder annäherungsweise (allerdings auch ziemlich exakt) bei dem Wert sind, den Destatis morgen als Jahreswachstum verkünden wird. Hier in Prozent:

(-1,6 + 0,9 + 1,1 + 1,7) / 4 = 2,1 /4 = 0,5

Das bringt uns zur oben gemachten Behauptung, das Wachstum im vierten Quartal (diesmal im Vergleich zum dritten Quartal) 2013 sei nur mit einem Gewicht von rund 6 Prozent in diese 0,5 Prozent eingegangen. Intuitiv könnte es wohl schon so klar geworden sein, wie wenig das vierte Quartal zum Wachstum beiträgt. Nun kann die Wachstumsrate zum Beispiel des 4. Quartals 2013 im Vergleich zum 4. Quartal 2012 als Produkt seiner Einzelteile – also Quartale – zerlegt werden:

       (1+ Wachstumsrate des 1.Q13)
mal (1+ Wachstumsrate des 2.Q13)
mal (1+ Wachstumsrate des 3.Q13)
mal (1+ Wachstumsrate des 4.Q13) = 1+1,7 Prozent = 1,017

Bei sehr kleinen Änderungen gilt, dass dieses Produkt durch die Summe der Wachstumsraten so angenähert werden kann:

        (Wachstumsrate des 1.Q13)
plus (Wachstumsrate des 2.Q13)
plus (Wachstumsrate des 3.Q13)
plus (Wachstumsrate des 4.Q13) = 1,7 Prozent = 0,017

Diese Zerlegung gilt natürlich für jedes Vierteljahr eines Jahres – hier die addierten Quartalswachstumsraten (jeweils im Vergleich zum Vorquartal – abgekürzt als 2.Q12 bis 4.Q13):

2.Q12 + 3.Q12 + 4.Q12 + 1.Q13 = -1,6 Prozent
3.Q12 + 4.Q12 + 1.Q13 + 2.Q13 =  0,9 Prozent
4.Q12 + 1.Q13 + 2.Q13 + 3.Q13 =  1,1 Prozent
1.Q13 + 2.Q13 + 3.Q13 + 4.Q13 =  1,7 Prozent

Fassen wir sowohl die rechte und auch die linke Seite der vier Gleichungen zusammen, kommen wie auf folgendes:

   1 mal 2.Q12
+ 2 mal 3.Q12
+ 3 mal 4.Q12
+ 4 mal 1.Q13
+ 3 mal 2.Q13
+ 2 mal 3.Q13
+ 1 mal 4.Q13 = (-1,6 + 0,9 + 1,1 + 1,7) = 2,1

Und jetzt dividieren wir beide Seite der Gleichung durch 4, um auf der rechten Seite den Mittelwert zu errechnen – also das durchschnittliche Jahreswachstum 2013:

   0,25 mal 2.Q12
+ 0,50 mal 3.Q12
+ 0,75 mal 4.Q12
+ 1,00 mal 1.Q13
+ 0,75 mal 2.Q13
+ 0,50 mal 3.Q13
+ 0,25 mal 4.Q13 = (-1,6 + 0,9 + 1,1 + 1,7) / 4 = 2,1 / 4 = 0,5

Et voilà, da haben wir auch schon das Schema, mit dem wir jede durchschnittliche Jahresrate mithilfe der Quartale (also den Wachstumsraten zum jeweiligen Vorquartal) darstellen können. Falls wir also eine Ahnung über den künftigen Verlauf in den einzelnen Quartalen haben (zum Beispiel, wenn wir Frühindikatoren auswerten), können wir damit auch schon Prognosen erstellen.

Schauen wir uns aber noch die Faktoren an, mit denen die einzelnen Quartalswachstumsraten in die Rechnung eingehen:

0,25 + 0,50 + 0,75 + 1,00 + 0,75 + 0,50 + 0,25 = 4,00

Dividieren wir wieder durch 4, bringt uns da diese Gewichte:

0,0625 + 0,125 + 0,1875 + 0,25 + 0,1875 + 0,125 + 0,0625 = 1

Oder in Prozent ausgedrückt:

6,25% + 12,50% + 18,75% + 25,00% + 18,75% + 12,50% + 6,25% = 100%

Dann haben wir also folgende Gewichte für das Wachstum im Jahr 2013 wie in jedem Jahr:

  6,25%           2.Q12
12,50%           3.Q12
18,75%           4.Q12
25,00%           1.Q13
18,75%           2.Q13
12,50%           3.Q13
  6,25%           4.Q13

Damit wird klar, dass das Quartalswachstum (jeweils in der Rate zum Vorquartal) sowohl des zweiten Quartals 2012 als auch des vierten Quartals 2013 jeweils nur mit einem Gewicht von rund 6,25 Prozent in das durchschnittliche Jahreswachstum des Jahres 2013 eingehen. Dies gilt natürlich für jedes Jahr. Das heißt aber auch, dass wir bereits nach dem ersten Quartal 2013 über fast zwei Drittel des durchschnittlichen Jahreswachstums Bescheid wussten. Oder auch, dass zwei Drittel des jahresdurchschnittlichen Wachstums allein im 4. Quartal 2012 sowie im 1. und 2. Quartal 2013 entstanden sind.

Das Jahreswachstum sagt uns also nur Dinge, die wir längst schon wissen. Wenn die Statistiker uns morgen erzählen, das Wachstum habe 2013 nur bei 0,5 Prozent gelegen – dann sagen sie uns eigentlich auch nur, dass der Winter 2012/2013 ganz schön kalt gewesen war und dazu geführt hat, dass das BIP in einem Quartal um 0,3 und das andere Mal um 0,4 Prozent geschrumpft ist. Also können wir beruhigt morgen weiterschlafen – ganz gleich, wer auch immer irgendetwas zu diesen Zahlen zu sagen hat.

Die wahre Herausforderung bei Prognosen liegt also nicht in den Jahresraten, sondern in den Quartalsraten (jeweils im Vergleich zum Vorquartal). Wer zum Beispiel im Dezember 2012 eine Prognose abgegeben hat und damals eine Ahnung davon hatte, wie das erste Quartal 2013 so laufen könnte, dürfte mit seine Vorhersagen bereits ziemlich gut gelegen haben. Anders derjenige, der im Sommer 2012 über seinen Prognosen gebrütet und kaum Material vorliegen und sich vielleicht auch mit ökonometrischen Modellen rumgeschlagen hatte.

Kehren wir zu den 0,5 Prozent vom Anfang dieses Beitrags zurück. Folgendes Schema kann sich jeder in seine Excel-Tabelle eingeben und ohne große Durchschnittsrechnung oder Ökonometrie kommen wir so auf die Jahresrate 2013. Das ist bei nur einem fehlenden Quartal natürlich trivial. Jeder kann aber mit etwas Rumprobieren nachvollziehen, dass selbst bei einem Wachstum zwischen 0,2 und 0,5 im vierten Quartal es noch auf die 0,5 Prozent im Gesamtjahr hinauslaufen würde – vorausgesetzt es finden keine Revisionen der Daten in den Vorquartalen statt:

140114 Tabelle1

Interessanter wird die Prognose für 2014. Da wir hier aber nicht den Anspruch erheben, Vorhersagen zu treffen, soll hier auch nur demonstriert werden, wie der Verlauf in diesem Jahr aussehen könnte, damit wir im Januar 2015 von Destatis zum Beispiel eine Rate von 1,8 Prozent präsentiert bekommen (wie gesagt, 0,8 Prozentpunkte davon haben wir eh schon längst im Kasten).

140114 Tabelle2

Wichtig dabei ist immer, dass man nur saison- und preisbereinigte Daten nimmt. Denn in Deutschland ist es entgegen internationaler Gepflogenheiten üblich, die Jahresraten nicht um den Effekt zu bereinigen, dass unterschiedliche Jahre auch eine unterschiedliche Anzahl von Arbeitstagen haben können. Bei den Quartalsraten, die immer in Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, ist das aber schon der Fall. Deswegen einfach mal bei Eurostat nachgucken, die haben die saisonbereinigten Daten.

Foto: Flickr / David Goehring / (CC BY 2.0)

  • KL

    Ein anregender Artikel.
    But a little nitpicking: es wäre vielleicht hilfreich gewesen, die Quartalsraten ‚yoy‘ und ‚qoq‘ gleich zu Beginn explizit in ihrem Unterschied zu benennen. Dann wäre vielleicht auch der logische Sprung nicht unterlaufen : nach dem Satz „Nun kann die Wachstumsrate zum Beispiel des 4. Quartals 2013 …“ werden plötzlich Quartalsraten qoq eingesetzt, obwohl bis eben nur Quartalsraten yoy verwendet wurden. Das hat mich doch etwas verwirrt.
    Damit wäre es wohl auch leichter gewesen, die scheinbare Paradoxie aufzuklären, „das“ Quartalswachstum des vierten Quartals gehe nur mit einem Gewicht von 6.25% in die Jahresrate ein. Denn man muß doch erwarten, daß das vierte Quartal eines Jahres das gleiche statistische Gewicht wie die anderen drei hat, was auch richtig ist: für das Quartalswachstum qoq. Die scheinbar paradoxe Aussage gilt natürlich auch: aber für Quartalsraten yoy.

    Im Ganzen wäre so vielleicht der Tenor des Artikels deutlicher zu vernehmen gewesen: ein Plädoyer für eine ordentliche Stichtagsbilanz, d. h., das BIP z. B. immer zum 31.12. vergleichen, um die Jahresrate zu bestimmen. Der Weg über die Jahresmittel ergibt zwar dasselbe Resultat, aber verstellt wohl etwas die Wahrnehmung des Umstandes, daß die Betrachtung der Quartale yoy eine andere Perspektive einnimmt, die (vermute ich) mit den jahreszeitlichen Schwankungen der Wirtschaftsaktivität begründbar ist. Das erleichtert dann unbedachte Vermengung der verschiedenen Aspekte.

    Und eine letzte Quengelei: „Anstieg um 1,005 oder um 0,5 Prozent“ ist vielleicht logisch nicht ganz sauber. Es wäre vielleicht besser, ein „Anstieg auf das 1,005-fache oder um 5 Prozent“ zu schreiben …

    Aber, wie gesagt: sehr anregender und wertvoller Artikel.

    Grüße,
    KL

  • André Kühnlenz

    Recht herzlichen Dank für die wertvollen Hinweise. Werde ich bei Gelegenheit noch überarbeiten… :)

  • Häschen

    Interessanter Artikel. Gut wenn man eine Ahnung bekommt wovon die ganze Zeit geredet wird.

Post a comment