1996 – das Jahr, als Europa das erste Mal starb
Viele wundern sich, woher nur das viele Geld kommt, mit dem wir Deutschen die ganze Welt überschwemmen. Natürlich nicht als Geschenk, sondern als Kredit oder als Investition in mehr oder weniger obskure Finanzprodukte. Gewaltige Verlustrisiken natürlich immer mit inbegriffen – gestern Europa und die USA und heute sind wieder einmal die Asiaten dran. Es soll auch noch einige geben, die sich ernsthaft wundern, woher nur diese Blasen an den Finanzmärkten kommen, von denen immer alle reden – ob sie nun New Economy, Subprime in Amerika oder Immobilienboom in Spanien heißen.
Da gibt es zum Beispiel Leute mit komischen Vorstellungen über die Rolle der Notenbanken in dieser Krise. Und dann gibt es Leute wie EZB-Chef Mario Draghi, der es irgendwie lustig fand, auf dem Euro-Gipfel im März die Staats- und Regierungschefs ein bisschen zu verarschenwirren.
Signore Draghi jongliert mit Äpfeln und Birnen
Naja zugegeben, Draghi gelang es, uns nur ein wenig zu verwirren. Denn glücklicherweise gibt es Volkswirte wie Andrew Watt vom Düsseldorfer Forschungsinstitut IMK, die das sofort durchschauen. Das IMK nennt man geläufig auch gewerkschaftsnah, was uns aber völlig egal sein kann – solange es um die Wahrheit geht. Aber keine Sorge, es geht hier nur um den Unterschied zwischen Äpfeln und Birnen.
Äpfel, das sind für Draghi inflationsbereinigte Produktivitätsdaten, und mit Birnen jongliert er, wenn er die unbereinigte Lohnentwicklung einfach so dazu reiht. Kann man alles schön auch im ehrwürdigen Tagesspiegel bei Harald Schumann nachlesen. Vielleicht erinnert sich noch jemand an den alten Nachkriegskonsens, den man uns Ossis nach der Vereinigung noch als „soziale Marktwirtschaft“ verkaufen wollte?
Der Nachkriegskonsens der Bundesrepublik…
Dieser Konsens ging ungefähr so: Produziert ein VW-Arbeiter – nach dem Kauf neuer Maschinen – statt 5 Autos an einem Tag 10 Autos, kann VW mit einem Schlag mehr davon verkaufen. VW verdient also mehr, weil die Produktivität der Arbeiter gestiegen ist. Die Einnahmen wachsen aber auch dann, wenn die Preise steigen.
Beides erhöht den Kuchen, den Arbeitnehmer und Arbeitgeber untereinander aufteilen können. Steigen Löhne und Gehälter in einer Volkswirtschaft genauso stark wie Arbeitsproduktivität und Preise (also die Inflation), dann wird der Kuchen genau so aufgeteilt, dass alle gleichmäßig etwas vom wachsenden Wohlstand abbekommen.
… ist seit 1996 Geschichte
Vielleicht hat Draghi genau wie wir Ossis längst vergessen, was dieser Nachkriegskonsens einmal war. Wer es nicht glaubt, dass es so etwas tatsächlich gegeben hat, der sollte sich folgende Grafik anschauen:
Bereits seit 1996 ist Schluss mit lustig in Deutschland: Die (nominale) Lohnentwicklung blieb drastisch hinter dem Zuwachs von Produktivität plus moderater Inflation (1,5 Prozent im Durchschnitt) zurück. Regelmäßig wurde der Kuchen also zugunsten der Arbeitgeber aufgeteilt und das summiert sich über die Jahre.
Was erlauben Frankreich?
Ökonom Watt hat die Grafiken gebastelt, die Draghi hätte auf dem März-Gipfel vorlegen müssen. Sie zeigen dummerweise auch, dass die Franzosen noch bis zuletzt an so etwas wie die soziale Marktwirtschaft geglaubt haben. Ach, immer diese naiven Gallier. Dafür bekommen sie jetzt ganz schön einen auf die Mütze – besonders aus Frankfurt.
Nicht erst mit der Agenda 2010 sinken die Arbeitskosten der deutschen Unternehmen sondern bereits seit 1996. Nur haben wir davon zunächst nicht so viel gemerkt. Warum? Weil die Privathaushalte sich kurz vor dem nahenden Millennium noch einmal richtig schön verschuldet und fleißig weiter konsumiert haben. Nur die folgende Katerstimmung daheim dauerte dafür dann umso länger.
Die Quelle der Geldflut
Zugleich verdienten die deutschen Firmen weltweit aber mehr und mehr, auch weil vielerorts gerade in Europa die Löhne noch stärker stiegen. Was am Ende bei hiesigen Arbeitsgebern und Vermögenden hängen blieb, also dieses „Ersparte“, floss in so schöne Dinge wie den Neuen Markt, und später dann in obskure US-Immobilienkredite oder an die bis dahin noch recht soliden Banken Spaniens oder Irlands. Blöd nur, dass für diese jüngsten Spekulationsverluste wir alle aufkommen müssen.
Dass aber die deutschen Lohnstückkosten Anfang dieses Jahrtausends infolge der deutschen Einheit und wegen der Globalisierung noch zu hoch gewesen sein sollen, das dürfte sich am Ende als die dreisteste Talkshow-Lüge herausstellen, die es jemals in diesem Land gegeben hat, wie wir demnächst hier an dieser Stelle noch sehen werden. Und sicher gab es seit 1970 häufig Lohnübertreibungen aus Sicht der Unternehmen – keine Frage. Aber das ist seit 1996 vorbei. Seitdem gibt es nur noch krasse Lohnuntertreibungen.
Die Kapitulation der Gewerkschaften
Leider gab es Mitte der 90er Jahre in Deutschland bereits ein Niedriglohnland im Osten, was die Macht der Gewerkschaften für immer gebrochen hat. Mit der Agenda 2010, mit der die SPD die Niedriglöhner auch im Westen einführte, haben die Gewerkschaften dann nur noch ihre Kapitulationsurkunde unterschrieben. (Dass sie damals keine Mindestlöhne wollten, darüber ärgern sie sich zu Recht noch heute…)
Nun haben wir den Salat. Jetzt wo wir alle die Gewerkschaften dringend bräuchten, strecken die Arbeitskämpfer nur noch müde ihre Fäuste empor. Jetzt, wo die FAZ bereits von Vollbeschäftigung träumt!
Selbst die Jungs aus der Finanzindustrie haben es begriffen
Dass die IG Metall mit nur 5,5 Prozent in den laufenden Tarifverhandlungen geht, das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Armutszeugnis für Deutschland. Mindestens 10 Prozent sollten es sein, um am Ende auch bei den 5 Prozent zu landen, die der Sachverständige der Bundesregierung Peter Bofinger für angemessen hält. Nicht einmal mehr auf „ihre“ Ökonomen hören die Gewerkschaften noch!
Denn Bofinger gilt auch als gewerkschaftsnah, was uns aber völlig egal sein kann – solange es darum geht, diesen Kapitalismus noch irgendwie zu retten. Genau um das geht es nämlich, um nichts mehr und um nichts weniger. Viele in der Finanzindustrie haben das längst begriffen, so wie der jahrelange Gewerkschaftshasser, einstige New Economy-Prophet und Spekulant Henry Blodget.