Meine Stimme aus Zürich: Das Echo der Befreiung
Wer die Entschlossenheit der Ukrainer im Winter 2023 sehen will, muss über die Glasbrücke von Kyjiw gehen. Fussgänger laufen über diesen Steg, der zwei Hügel nicht weit vom Fluss Dnipro verbindet. Es ist die Altstadtseite am rechten Ufer, da wo die alten orthodoxen Kirchen und Klöster über der Stadt thronen.
Die Bewohner der Hauptstadt nennen sie auch «Klitschkos Brücke». Denn Bürgermeister Vitali hat sie 2019 eröffnet. Der Ex-Boxer war es auch, der in einem selbstgedrehten Video am 10. Oktober über die Brücke schreitet: «Unsere Fussgängerbrücke mit dem fantastischen Blick über den Fluss Dnipro wurde von den Barbaren beschädigt», sagt Klitschko.
Wer die Barbaren sind, das braucht er keinem seiner Landsleute zu erklären. Längst bestätigen Umfragen, was lange nur durch Hören und Sagen bekannt war: Seit Beginn des Totalangriffs Russlands vor einem Jahr rücken auch die letzten Ukrainer vom Nachbarn ab. Alte Sentimentalitäten haben keinen Platz mehr. Wenn man so will, hat der Kremlherrscher die Ukraine erst zur Nation werden lassen.
Eine repräsentative Umfrage der Münchner Sicherheitskonferenz zeigt: Auch bei einem Nuklearschlag würden 89% der Ukrainer unter allen Umständen weiterkämpfen wollen. Dazu hat eine Kommunikationsagentur mit lokalen Partnern im November 2022 die Bevölkerung befragt. Seitdem dürfte sich kaum etwas daran verändert haben.
Für 85% der Befragten wäre auch ein Rückzug Russlands auf die Demarkationslinie zu Beginn des Totalangriffs keine akzeptable Grundlage für einen Waffenstillstand. Dies steht im krassen Widerspruch zu lauten Stimmen in der Schweiz oder Deutschland, die behaupten, die Ukrainer würden im Krieg der USA und des Westens gegen Russland verheizt.
Tatsächlich geht es den meisten darum, dass das Morden von Zivilisten und das Vergewaltigen von Frauen durch russische Soldaten aufhört. Deswegen ist es auch unvorstellbar, dass die Ukraine sich einem sofortigen Waffenstillstand beugt. Denn den dürfte es nach den Vorstellungen des Kreml nur geben, wenn die Ukraine alle Gebiete als russisch anerkennt, die Moskaus Herrscher bereits offiziell der Russischen Föderation einverleibt haben – inklusive der Teile, die Russlands Soldaten bisher nicht kontrollieren.
Was einigen im Westen als sofortiger Frieden vorschwebt, heisst nur noch mehr Verbrechen und Terror an unschuldigen Bewohnern. Das erklärt die Entschlossenheit und die Ziele, für die viele Ukrainer kämpfen. Ganz egal, welche geopolitischen Begründungen («die Freiheit und Werte des Westens») in den verbündeten Staaten für die Unterstützung herhalten müssen.
Und so wurde auch die Glasbrücke zum Symbol der Entschlossenheit. Gleich daneben hat im Oktober eine russische Rakete einen riesigen Krater in der Erde hinterlassen. Erstaunlich ist, dass die Brücke kaum beschädigt worden ist, nur die gläsernen Balustraden wurden zerstört. Hohn und Spott in den Sozialen Medien fanden lange kein Ende. Innerhalb weniger Wochen war alles wieder repariert.
Gucci-Filiale in einer Seitenstrasse des Boulevards Chreschtschatyk in Kyjiw.
Wer in den kalten Tagen des Winters 2023 durch die Strassen Kyjiws geht, dem kann es passieren, dass er vom Krieg nicht viel mitbekommt. Die Leute gehen im Zentrum munter einkaufen, in Läden wie von Gucci in einer Seitenstrasse des Boulevards Chreschtschatyk. Die Fenster mit Brettern vernagelt, übersät mit Graffiti, so als ob der Krieg als Popereignis für die Hipster eingekocht werden soll.
Doch irgendwann ertönt dann doch noch der Luftalarm. Ein russisches Aufklärungsflugzeug ist irgendwo in Belarus aufgestiegen. Doch die Leute bleiben ruhig, wissen mittlerweile zu unterscheiden, wann eine neue Welle an Raketen und Drohnen angeflogen kommt. Doch auch die werden mit wütenden Schimpftiraden begrüsst, die durch die Neubaublocks auf der linken Seite des Dnipro wie Echos der ersehnten Befreiung durch die Stadt hallen.
(Erstmals erschienen am 23. März 2023 auf fuw.ch)
Fotos: André Kühnlenz