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Meine Stimme aus Zürich: Bewährungsprobe für eine Fiskalunion

Bis zum Herbst müssen alle siebenundzwanzig Nationalparlamente und das Europäische Parlament darüber abstimmen, was die Brüsseler Kommission angedacht hat. Zuvor werden die Staats- und Regierungschefs noch um jede Nachkommastelle des geplanten Recovery Fund erbittert feilschen. Die Begleitgeräusche aus den Hauptstädten werden hässlich und anstrengend sein. Doch am Ende entscheiden allein die Ergebnisse, und die können die Union fundamental zum Besseren verändern.

Klare Vorteile für die Schweiz

Die Schweiz würde davon profitieren, wenn sich die EU-Wirtschaft mit einem Anschub von 750 Mrd. € aus dem Fonds schneller erholen könnte. Dies sind immerhin 5 bis 6% des Bruttoinlandprodukts (BIP) über die nächsten Jahre verteilt. Doch etwas anderes wird genauso wichtig für die Eidgenossenschaft sein: Denn erstmals wollen die EU-Staaten ­gemeinsam Schulden aufnehmen, um nennenswert das Budget der EU-Kommission zu finanzieren.

Die Brüsseler Behörde würde mit einem Schlag und auf absehbare Zeit zum fünftgrössten Anleihenemittenten der EU aufrücken – nach Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien. Der Vorteil für die Schweiz liegt auf der Hand: Diese EU-Anleihen nähmen von ihr viel Druck weg, als sicherer Hafen für die umliegenden Länder zu fungieren. Der Franken und die SNB würden es danken, genauso wie die Finanzinvestoren im Währungsraum, die die Ersparnisse der Bürger so anlegen müssen, dass sie die Risiken gut streuen.

Die gemeinsamen Obligationen der EU mildern auch eine Ungerechtigkeit ab, die die EU-Länder seit der Finanzkrise auseinandergetrieben hat. Bislang profitierte in erster Linie Deutschland vom zerstückelten Staatsanleihenmarkt der Eurozone. Damit ist weit mehr gemeint, als dass das Land mit der grössten Wirtschaftsleistung und soliden Staatsfinanzen den Anker des Währungsraums bildet.

Über seine Topkreditwürdigkeit hinaus begünstigt Deutschland noch etwas: Immer wenn irgendwo auch nur der Hauch einer Verunsicherung bei Anlegern aufkommt, flüchtet alles und jeder mit seinen Euro in deutsche Anlagen.

Die Folge: Die Zinslast für die Berliner Regierung ist erheblich stärker gesunken als in allen anderen Mitgliedsländern. Nur so hat es die Bundesregierung über Jahre geschafft, Überschüsse in ihre Fiskal­bilanz zu schreiben, während sie die Ausgaben für Flüchtlinge und Soziales mit am stärksten in Europa steigerte. Von diesem exorbitanten Zinsprivileg gibt Deutschland nun etwas an seine EU-Partner ab.

So wie es bisher geplant ist, zieht die EU eine weitere Lehre aus der missglückten Episode der Austerität nach der Finanzkrise. Man muss schon bis Anfang der Dreissigerjahre zurückschauen, um Perioden zu finden, wo in Friedenszeiten Regierungen in Nordamerika und Europa ihre Ausgaben für Beamte und Angestellte sowie Investitionen so stark und so lange gesenkt haben wie nach 2010. Natürlich waren die Folgen damals in Deutschland oder in den USA verheerender. Doch auch in Italien begann achtzig Jahre später der Wert des privaten und öffentlichen Kapitalstocks zu schrumpfen, was jede Marktwirtschaft in ihren Grundfesten aushöhlt.

Dabei nutzten die Regierenden in Rom und Madrid das erste Jahrzehnt nach der Euroeinführung noch dazu, die Staatsverschuldung abzubauen – im Gegensatz zu Berlin oder Paris. Davon war im zweiten Jahrzehnt der Budgetkürzungen aber keine Rede mehr. Denn wenn der Staat direkte Ausgaben senkt, vernichtet er dabei immer Einkommen im Privatsektor. So etwas geht nur in einer Boomphase gut aus.

Das Ergebnis ist bekannt: Italiens Schuldenlast stieg von 104% des BIP 2007 zuerst auf 120% in der Finanzkrise, um dann bis 2015 auf das Hoch von 135% zu schnellen. Die reformbedürftige Privatwirtschaft erlahmte nochmals künstlich infolge des drastischen Sparkurses – die direkten Staatsausgaben sanken innerhalb von fünf Jahren 6%, allein die Investitionen 24%. Ganz zu schweigen von den langfristigen Folgen für die Infrastruktur, wenn sogar Erhaltungsausgaben der öffentlichen Hand ausbleiben.

Wenn die EU jetzt 500 Mrd. € an Zuschüssen vor allem an die am meisten vom Virus betroffenen Länder vergeben will, hat dies einen Grund: Diese Ausgaben zählen nicht mehr als Staatsschulden der einzelnen Länder. So bekommt sogar Italien noch eine Chance, aus dem Schuldenstand von erwarteten 160% des BIP Ende 2020 wieder hinauszuwachsen. Doch die EU-Kommission beherzigt noch etwas. Die Auszahlungen werden daran geknüpft, dass bestimmte Zwischenziele aus den nationalen Wiederaufbauplänen erreicht werden. Nur so können Strukturreformen den ökologischen und digitalen Wandel begleiten und die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften verbessern.

Geringe Fiskaltransfers

Für Deutschland und die Länder im Norden ist besonders wichtig, dass jedes Land nur mit seinem Budgetanteil haftet, also nicht potenziell unbegrenzt. Noch ist aber offen, wie die EU die Schulden ab 2028 über dreissig Jahre tilgen wird. Entweder über eigene Steuern oder über Beiträge der Länder. So oder so dürften Deutschland und andere Nettozahler grob überschlagen nicht mehr als 0,1% des BIP pro Jahr zur Tilgung beitragen. Von riesigen Fiskaltransfers kann also keine Rede sein, auch wenn der Norden die Hauptlast trägt.

Erfreulich dürfte für viele Skeptiker auch sein, dass die Kommission ein zentrales wirtschaftsliberales Credo ganz gross schreibt: Wer haftet, muss auch kontrollieren. Jedes Projekt wird von Anfang bis Ende durch die EU-Kommission überwacht. Die Verantwortung liegt keinesfalls in den Hauptstädten. So bietet der Wiederbelebungsfonds eine einmalige Chance für die EU: Statt jahrelang über Grundsätze zu lamentieren, kann sie jetzt in einem grossen und befristeten Experiment testen, wie es ist, wenn die Fiskalpolitik der Nationalstaaten zusammenrückt und stärker zentralisiert wird.

Wenn sich die alten und zum Teil berechtigten Vorurteile im Norden bestätigen und der Süden tatsächlich zur Schlampigkeit bei Schulden und Reformen neigt, war es das: Mehr Schritte zur Vertiefung der Union gibt es dann nicht. Wenn dagegen das Vertrauen wächst, werden die Länderparlamente ganz von allein darauf kommen, dass sie die EU-Verträge so ändern können, dass noch mehr zusammenwächst, was zusammengehört.

Der Kommentar erschien zuerst in der «Finanz und Wirtschaft»

Foto: Pixabay
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