„First We Take Jalta, Than We Take Berlin?“
Kein Tag vergeht, an dem nicht irgendein wichtiger Leitartikelschreiber in Deutschland und Österreich die ganz große Keule rausholt. Vor allem die Geschäftsleute in deutschen und österreichischen Unternehmen bekommen verbal einen auf den Deckel. Also diejenigen, die seit Wochen und Tagen vor einer Sanktionsspirale mit Russland warnen. Jeder „Russlandfreund“, „Putinversteher“ oder noch besser jeder „Schleimige“ (Die Presse vom 19. März 2014) müsse es doch einsehen, dass hier der russische Neoimperialismus eines verrückten „Raubtierfreundes“ Putin am Werk ist. Man könnte fast schon meinen, der Russe steht schon wieder kurz vor der Hauptstadt: „First we take Jalta, than we take Berlin!“ – ganz klar, das müsse doch jeder einsehen, der noch gerade denken kann, suggerieren die Leitartikelfalken.
Da interessiert es dann auch wenig, woher die Schreiber ihr Exklusivwissen bekommen. Nur benutzen sie gerne die gleichen Worte und Argumente, was auffällt. Hauptsache der Westen bereitet schon einmal Sanktionen vor, wenn Russland dann den Rest der Ukraine angreifen sollte. Zuvor wird es irgendeine Provokation geben, Gott bewahre, dass es nicht noch ein Massaker gibt. Und die Leitartikler werden wieder ganz schnell dabei sein, den „verrückten Diktator“ in Moskau dafür verantwortlich zu machen. Und der müsse ja wohl so schnell wie möglich gestoppt werden, bevor er noch mehr Unheil anrichten kann. Eine Untersuchung des Zwischenfalls wird sich lange hinziehen, sehr lange. Wer will das Ende noch abwarten?
Genau so könnte es kommen!
Es soll hier keineswegs behauptet werden, dass Russland nicht doch hinter dem „Zwischenfall“ stehen wird, der zu einem Krieg führen wird. Bislang hat Moskau aber mit der Besetzung der Krim allerdings völlig rational gehandelt. Denn damit ist der Schwarzmeerhafen für die russische Militärflotte gesichert. Und so lange der Westen nicht die Republik Krim anerkennt, kann die Ukraine auch nicht der Nato beitreten. Vergessen wir nicht, dass in Kiew ein Übergangsministerpräsident die Geschäfte führt, dessen Stiftung zum Beispiel von eben jener Nato und der US-Regierung finanziert wird. Augenscheinlich war es für den Westen aber auch sehr leicht, Putin zum Einmarsch auf der Krim zu bewegen, wenn es denn so gewollt gewesen war.
Das Drehbuch des Krieges ist schon längst geschrieben
Die Latte für die nächste Eskalationsstufe eines Krieges liegt mittlerweile aber sehr, sehr niedrig – auch als Folge der patriotischen Propaganda und Lügen in Russland. Jeder, der aus welchen Gründen auch immer es will, der kann einen Krieg provozieren: Russen, Ukrainer, Amerikaner, Osteuropäer oder wer auch immer, sie müssen nur einen tragischen „Zwischenfall“ inszenieren. Und die russische Armee marschiert ein. Genau so würde es dann ablaufen, wenn wir uns an den Irak oder den Westbalkan erinnern.
Vielleicht reicht schon ein Ermittlungsergebnis, eines das behauptet, dass Russland hinter den Toten auf dem Maidan steht. Doch werden wir es dann wirklich 100-prozentig glauben dürfen? Ich zweifle daran. Doch für unsere Leitartikelfalken steht die Antwort praktisch jetzt schon fest: Aus Moskau kämen dann natürlich wieder nur Lügen! Und die Reihen werden auch in Deutschland geschlossen, man kennt das ja schon zu Genüge. Irgendein Märchen zieht immer.
Natürlich droht damit nicht unbedingt ein Atomkrieg zwischen Russland und den USA, aber ein jahrlanger Bürgerkrieg in der Ukraine wäre durchaus vorstellbar. Die Motive für einen möglichen Krieg liegen bislang noch im Dunkeln – zumindest für mich. Klar ist nur, dass wir Deutschen, eigentlich alle Europäer und die Chinesen das geringste Interesse daran hätten. Klar ist auch, dass die Amerikaner schon lange nicht mehr die Freunde einer deutschen Bundesregierung oder der hiesigen Wirtschaft sind (und damit ist nicht die NSA gemeint). Und man kann nur hoffen, dass Merkel und Steinmeier (vielleicht zusammen mit den Chinesen) einen Weg finden werden, die Lage auf Dauer zu entspannen. Das wird nur leider sehr schwierig werden und sehr lange dauern. Wenn es auch nicht so bald in Ukraine knallen sollte, die Region bleibt noch auf Jahre ein Pulverfass. Warum nicht dann nicht gleich die Wartezeit verkürzen?
Doch wenn es so weit kommt, dann werden auch die deutschen Geschäftsleute nicht mehr ihren Mund aufmachen, so wie sie es heute noch tun und ihre Interessen vertreten. Dann wird auch ein Gerhard Schröder schweigen wie ein Grab. Oder Eon-Chef Johannes Teyssen wird sich Sätze wie vorige Woche im „Spiegel“ verkneifen, als es um die Energieabhängigkeit von Russland ging:
„Und dieses ewige Gerede von der Abhängigkeit kann ich auch nicht mehr hören. Man kann, wenn man böswillig ist, auch eine Ehe als Abhängigkeit bezeichnen. Man kann sie aber auch als Partnerschaft verstehen. Europa und Russland haben über vier Dekaden eine Energiepartnerschaft aufgebaut, und es gab in dieser Zeit keinen einzigen Tag, an dem Gas als strategische Waffe gegen den Westen eingesetzt wurde. Im Übrigen profitieren beide Seiten gleichermaßen von dieser Partnerschaft. Auch jetzt fließt das Gas ohne jeden Druckabfall durch alle Pipelines. Das sind die Fakten.“
Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hat aber schon längst das Stichwort gegeben. Deutschland sei erpressbar von Russland, weil wir von Putin ein Drittel unseres Öls und Gases bekommen. Und die naiven Grünen in Deutschland heulen artig mit. Hoffentlich hat Tusk dabei nicht an die Schiefergasvorkommen in seiner Heimat gedacht. Die Partnerschaft Westdeutschlands und Russland reicht jedenfalls schon länger zurück, sie ging Hand in Hand mit der Ostpolitik von Willy Brandt, wie meine geschätzte Kollegin Eva Konzett vor Kurzem für das WirtschaftsBlatt aufgeschrieben hat. Und diese Partnerschaft hatte natürlich auch etwas mit Frieden zu tun.
Ist es so unvorstellbar, dass vielleicht irgendjemand diese Partnerschaft mit Russland zerstören will? Wenn die Gaspreise an den Märkten anziehen, werden wir es merken. Es war eine Partnerschaft, die auch die schlimmsten Tage des „Kalten Krieges“ überstanden hat, wie auch die Bundeskanzlerin am Freitag in Brüssel noch einmal betonte.
Auf die Frage: „In den letzten Jahren hat man ja gesehen, dass russische Firmen, vor allem Gazprom, nicht nur Gas liefern, sondern sich zunehmend an der Energieinfrastruktur in Deutschland und in anderen europäischen Ländern beteiligen. Sehen Sie das eigentlich unter dem Licht der jetzigen Entwicklung als Problem? Finden Sie, dass Deutschland und die EU dort einschreiten müssten?“, sagte Frau Merkel:
„Ich finde nicht, dass man einschreiten muss. Ich glaube nur, dass wir natürlich jetzt schon im Zustand einer größeren Verunsicherung über das, was vorgefallen ist, leben. Aber ich hoffe doch, dass man auch weiter zu Verlässlichkeit kommen kann. Aber das Vertrauen – das sieht man ja auch an vielen Ereignissen auf den Märkten – ist schon erschüttert. Auf der anderen Seite haben wir bislang keine negativen Erfahrungen gemacht; das zählt auch viel. Ich habe immer wieder gesagt: Selbst im Kalten Krieg sind die Gasflüsse, die Erdölflüsse gut gelaufen. Aber wenn ich die Diskussion von den Kollegen verfolge, gibt es schon eine gewisse Verunsicherung.“
Natürlich ist es gut, wenn sich Europa in seinen Energiequellen diversifiziert. Ich fürchte nur, das Thema Energieunabhängigkeit werden wir noch in einem ganzen anderem Zusammenhang diskutieren müssen. Und unsere fleißigen Leitartikelschreiber sollten bitte sehr gut aufpassen, dass sie sich hier nicht vereinnahmen oder manipulieren lassen. Es könnte doch sein, dass sie – ohne es zu merken – gar nicht mehr im Interesse Deutschlands und des Friedens in Europa ihre Ausätze schreiben. Und dann könnte die Zeile „First We Take Jalta, Than We Take Berlin“ noch eine ganz andere Bedeutung gewinnen, als wir uns heute vorstellen können.
Ich fasse mich ungewohnt kurz: Großartiger Artikel!