Das Nichtwährungssystem, die niedrigen Zinsen und was Deutschland tun kann
Also sind es doch nicht nur die extrem niedrigen Leitzinsen der Zentralbanken, die die Welt ins Verderben stoßen? Vergangenen Sommer kurz vor der jährlichen Notenbankertagung in Jackson Hole war es mal wieder soweit: William White, Ex-Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, legte seine neueste Generalabrechnung mit der ultralockeren Geldpolitik in so vielen Regionen der Welt vor. Während es schon sehr merkwürdig ist, die Ursachen für die Große Finanzkrise allein auf die niedrigen Zinsen zurückzuführen, lässt das heutige Interview mit White in der NZZ aufhorchen. Bemerkenswert ist auch, welche Ratschläge er den Deutschen gibt.
Das Ausmaß der Finanzkrise wäre wohl niemals so groß gewesen, hätten nicht die Chinesen und die Öl exportierenden Länder mit ihren Exportüberschüssen den gefährlichen Kreditboom in den USA erst angeheizt. Allein seit der Jahrtausendwende sind aus diesen Ländern rund 5000 Mrd. Dollar nach Amerika geflossen, die dort vor allem in angeblich „risikolosen“ Wertpapieren angelegt wurden.
Diese Billionenströme drückten die Marktzinsen weltweit und heizten die Jagd nach Rendite all jener Investoren an, die sich nicht mehr mit einer mickrigen Verzinsung in den Industrieländern abfinden wollten oder konnten. Beides bereitete erst das Schattenbanksystem in den USA auch Europa den Weg – mit all seinen undurchsichtigen und hochriskanten Zweckgesellschaften und Immobilienanleihen. Eng verbunden damit war eben auch der Aufstieg Chinas seit der Asienkrise Ende der 90er Jahre und somit mit der Währungspolitik des Landes. Sie hatte/hat vor allem folgende Ziele: dass der Wechselkurs zum Dollar nicht zu stark schwankt und eine zu starke Aufwertung des Renminbi verhindert wird.
Die Kehrseite waren die 2000 Mrd. Dollar an Devisenreserven, die die Volksrepublik vor Ausbruch der Finanzkrise angesammelt hatte und die mittlerweile auf mehr als 3000 Mrd. Dollar gewachsen sind. Gut möglich, dass sich dies sogar als stabilisierender Faktor für die Weltwirtschaft inmitten der Krise herausstellte, weil Peking die enormen Budgetdefizite in den USA finanzierte – aber wahrscheinlich hätten die US-Banken auch ohne die Chinesen ihrem Staat genug Kredit gegeben.
Wie auch immer, vor diesem Hintergrund sind folgende Aussagen Whites dann doch sehr bemerkenswert (zumindest aus meiner Sicht, da ich etzt nicht jede Rede oder jedes Paper von White gelesen habe):
Ich denke, das internationale Währungssystem – oder besser gesagt das internationale „Nichtwährungssystem“ – ist einer Hauptgründe, wieso wir überhaupt in die Schwierigkeiten mit Überschuldung, Überkonsum und anderen Phänomenen gekommen sind, die letztlich in der laufenden Krise mündeten. Unter dem Goldstandard wären Ungleichgewichte dieser Art nicht möglich gewesen, und auch das Bretton-Woods-System hätte entsprechende Ausgleichsprozesse vorgesehen.
(…)
Seit den 1970er Jahren haben wir ein Nichtsystem, in welchem jeder selbst sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen kann. Dann passiert das, was man in Asien beobachten kann. Die Währungen der Staaten tendieren nach oben und bedrohen das exportorientierte volkswirtschaftliche Modell. Das führt zu Interventionen am Devisenmarkt und zu tiefen Zinsen in den Binnenmärkten. (…) Gäbe es dagegen internationale Regeln, wie man sich am Devisenmarkt zu verhalten hat, sähe die Welt ganz anders aus.
Vor diesem Hintergrund hören sich Whites Warnungen vor den allzu niedrigen Zinsen in den Industrieländern auch nicht mehr so verkehrt an:
Die Ungleichgewichte, die uns in die Krise geführt haben, sind noch lange nicht beseitigt. In vielen Staaten haben sich die Immobilienmärkte noch nicht erholt. In Ländern wie Kanada oder in ganz Skandinavien dagegen verführen die tiefen Zinsen zum Kauf zu teurer Immobilien, und die Verschuldung ist zu hoch. In weiten Teilen der Welt wird zu viel konsumiert und zu wenig gespart, weil hohe Hauspreise den Eindruck erwecken mögen, man sei reich – das ist verrückt.
Nicht zu vergessen die Schwellenländer:
In Asien etwa liegen die privaten Verbindlichkeiten deutlich über dem Niveau des Jahres 1997. In Brasilien haben die Schulden der Konsumenten zuletzt unglaublich schnell zugenommen, weil viel auf Raten gekauft wird. Abgesehen von Immobilien waren vor der Krise 2007 viele Vermögenswerte zum Teil dramatisch überbewertet. Inzwischen liegen sie teilweise sogar darüber – einschliesslich der Aktienkurse, obwohl die Risiken heute höher sind als damals.
Schlussendlich ist auch bemerkenswert, was Deutschland gegen die Ungleichgewichte tun kann:
Oder Deutschland könnte sich sagen, wir verfügen über beachtliche Auslandsvermögen, die Staatsschulden sind nicht allzu hoch und die Finanzierungskosten liegen praktisch bei null. Nun wäre es an der Zeit, Geld in die Hand zu nehmen und beispielsweise in die eigene Infrastruktur zu investieren. (…) Denn wenn man zum Beispiel eine Brücke baut, deren Nutzen im Verhältnis zu den Kosten nachweislich hoch ist und die folglich eine hohe soziale Rendite abwirft, steht der zunehmenden Verbindlichkeit ein enormer Vermögenswert gegenüber. Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Staatsschulden, die entstehen, um steigende Sozialausgaben zu begleichen.