
Meine Stimme aus Zürich: Habt keine Angst mehr, die Ukraine zu verteidigen
Seit zehn Jahren wehren sich die Ukrainer heldenhaft gegen die Übermacht aus dem Osten. Das Land braucht dringend neue Hilfen, um die Totalinvasion zu stoppen.
Auf der Sicherheitskonferenz in München spüren alle die düstere Stimmung. Da, wo jedes Jahr im Februar das wichtigste Treffen zu Krieg und Frieden stattfindet, ist allen Teilnehmern vergangenes Wochenende klar: Die Ukrainer stehen mit dem Rücken zur Wand im Krieg gegen die Invasion aus dem Osten.
Was für ein Kontrast zur grossen Zuversicht ein Jahr zuvor auf den Hotelfluren des «Bayerischen Hofs». Nun dämmert es vielen Unterstützern der Ukraine: Sie haben die Stärke der russischen Streitkräfte unterschätzt, wie anpassungsfähig sie sind und wie viele unschuldige Soldatenleben der Kreml zu opfern bereit ist – in den Fleischmühlen des Krieges.
Heute steht die Ukraine wieder davor, dass sie Land und Leute an die russischen Besatzer verliert. In der Okkupation droht jedem, der sich nicht zum angeblichen Bruderstaat bekennt, Folter und Tod. Unter den Verbündeten im Westen wächst die Furcht, dass die Ukraine die russische Übermacht nicht mehr aufhalten kann.
Doch es ist noch nicht zu spät. Nur müssen der Einsicht auch Taten folgen. Realistisch kann nur eine Hilfe sein, mit der die Ukraine den Vormarsch der russischen Truppen stoppen kann. Denn dieses Jahr kann es nur um die Verteidigung der Frontlinie gehen und um Aufbau und Training neu mobilisierter Einheiten.
Keine gespaltene Gesellschaft mehr
Russland hat vor zehn Jahren mit einer Geheimdienstoperation den Krieg im östlichen Donbass begonnen. Der hat die Ukraine mittlerweile fast vollständig von Russland entzweit, nicht nur kulturell und sprachlich, sondern gerade auch in den wirtschaftlichen Interessen. Von einer gespaltenen Gesellschaft wie vor 2014 ist nichts mehr spüren.
Die Ukrainer sind noch immer entschlossen, sich zu verteidigen, egal, mit welchen Waffen und Mitteln auch immer. Niemand sollte sich davon täuschen lassen, wie ausgelaugt und frustriert die ukrainischen Soldaten sind. Sie würden lieber heute als morgen zu ihren Familien zurückkehren, als sich mit schwerem Herzen in neue Abenteuer zur Befreiung der besetzten Gebiete zu stürzen.
In der jüngsten Umfrage im Auftrag der Münchner Sicherheitskonferenz vom Oktober bis November 2023 sagen aber auch 94% der Ukrainer, es sei für sie nicht akzeptabel, dass russische Truppen in den besetzen Gebieten verbleiben. Jede neue Rakete und jede neue Drohne, die in einem Wohngebiet einschlägt, stärkt nur den Widerstandsgeist der Zivilbevölkerung. Doch das reicht natürlich nicht.
Mehr Munition in diesem Jahr
Zur Verteidigung der aktuellen Frontlinie braucht die Ukraine 5000 Schuss Munition jeden Tag. Selbst dann wäre sie den russischen Truppen noch immer dramatisch unterlegen, die auf 10’000 Schuss kommen. Derzeit hat die Ukraine nach optimistischen Schätzungen aber nur 3800 Schuss, einige reden sogar von nur 2000 oder weniger.
Immerhin gibt es Lichtblicke: Vielleicht schon im Sommer könnte die Ukraine so weit sein, dass sie auf 5000 Schuss kommt. Der Westen hat eben zu lange gewartet, die Produktion hochzufahren. Daher wird es frühestens im Jahr 2025 entscheidend besser werden. Bis dahin hilft nur eine flexible Verteidigung, die kreativ den Mangel irgendwie überbrückt.
«Fragen Sie nicht die Ukrainer, wann der Krieg aufhört. Fragen Sie sich selbst, warum Putin ihn noch immer weiterführen kann.» Wolodimir Selenski
Etwas mehr Hoffnung gab es dann doch noch in München. Dänemarks Premierministerin Mette Frederiksen sagte zu, ihr Land werde die gesamte dänische Munition für Artillerie an die Ukraine spenden. Tschechiens Präsident Petr Pavel kündigte sogar an, sein Land könne innerhalb von Wochen 800’000 Schuss Artilleriemunition aus Südkorea, Südafrika und der Türkei auftreiben. Es fehlt nur am Geld.
An der Verteidigung der Frontlinie besteht für die Ukrainer kein Zweifel. Und den sollte es auch bei den Unterstützern nicht geben. Zweifel bleiben dagegen, wann und wie Verhandlungen den Krieg beenden können. Denn eines ist sicher: Die Fehler der Vergangenheit wie beim Budapester Memorandum von 1994 und beim Minsker Abkommen von 2015 dürfen sich nicht wiederholen.
Mit Ersterem hat die Ukraine ihre Atomwaffen gegen vage Sicherheitsversprechen abgegeben. Mit Letzterem wurde der von Russland angezettelte Krieg im Donbass eingefroren. Die Geschichte zeigt, dass diese Vereinbarungen nichts wert sind, wenn die Ukraine keine handfesten Sicherheitsgarantien bekommt.
Sicherheitsgarantien sind entscheidend
Akribische Recherchen der Politikwissenschaftlerin Sabine Fischer von der regierungsnahen «Stiftung Wissenschaft und Politik» in Berlin zeigen: Alle Versuche, eine Friedenslösung nach dem 24. Februar 2022 zu finden, sind genau an der Frage der Sicherheitsgarantien gescheitert.
Denn der Kreml besteht bis heute darauf, dass die Ukraine sich auch auf Sicherheitsgarantien Russlands verlässt und sich weitgehend entmilitarisiert. Nicht erst nach den Massakern von Butscha im Frühjahr 2022 ist dies für alle Ukrainer aber unannehmbar. Das gilt wohl auch für eine entmilitarisierte Zone, wie Putin sie im Januar ins Spiel gebracht hat.
Die Recherchen zerstören den Mythos im Westen, wonach die Verhandlungen in Istanbul vom März 2022 am Widerstand aus London oder Washington gescheitert seien. Bei allen geopolitischen Interessen: Weder Grossbritannien noch die USA haben Russland in diesen Krieg getrieben, wie die russische Propaganda bis heute behauptet.
Wenn es Putin Ende 2021 um eine echte Verhandlungslösung über gegenseitige Sicherheitsgarantien gegangen wäre, hätte er den letzten Ausweg genutzt, den Krieg abzuwenden: ein Gipfeltreffen mit US-Präsident Joe Biden. Denn den sollten die beiden Aussenminister Lawrow und Blinken genau am 24. Februar 2022, dem Beginn der Totalinvasion, vorbereiten.
Putin ging es nie um die Nato
Nicht zu vergessen: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski war Anfang 2022 bereit, das Volk über die Nato-Mitgliedschaft abstimmen zulassen. Im Ausgleich gegen verlässliche Sicherheitsgarantien, wenn nur der Krieg abgewendet würde. Da es Putin dann doch nie um die Nato-Mitgliedschaft ging, ist er bis heute auch nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit.
Wenn es aber einmal zu Friedensgesprächen kommen wird, ist die Ukraine weiterhin auf westliche Hilfe angewiesen. Denn ohne sie würde Russlands Interesse an Kompromissen sofort verschwinden. Wo diese liegen könnten, ist heute aber absolut nicht absehbar.
Für den Westen kann dies nur heissen: Länder wie Frankreich müssen aufhören, die EU zu blockieren, Munition auf dem Weltmarkt zu kaufen. Wenn nicht, muss die EU andere Weg finden, die Käufe zu finanzieren. Dazu kann sie auch EU-Anleihen ausgeben, wie sie es schon in der Finanzkrise für Osteuropa getan hatte.
Auch die Schweizer sollten sich nicht mehr dagegen wehren, dass Verteidigungswaffen aus der Eidgenossenschaft indirekt in die Ukraine gelangen. Denn eine Frage Selenskis in München muss sich jedem Europäer stellen – auch in den neutralen Alpen: «Fragen Sie nicht die Ukrainer, wann der Krieg aufhört. Fragen Sie sich selbst, warum Putin ihn noch immer weiterführen kann.»
(Erstmals erschienen am 23. März 2023 auf fuw.ch)
Fotos: André KühnlenzEntdecke mehr von WeitwinkelSubjektiv
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