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Überhitzungsphantasien vernebeln die Köpfe unserer Wirtschaftspolitiker

Die Frucht geht um in Deutschland, dass die gute Lage am Arbeitsmarkt zu stärkeren Lohnsteigerungen führt und somit die Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes gefährden könnte. Deshalb kursiert seit geraumer Zeit in konservativen oder eher marktliberalen Kreisen bei Politikern, Technokraten und in den Medien die eigenartige These von den ausgelasteten Kapazitäten (Maschinen, Anlagen, Computer usw.). Diese Mär dient allerdings nur als Vorwand dafür, dass die öffentlichen Haushalte sich trotz Nullzinsen nicht noch mehr verschulden dürfen. Wenn überhaupt dann sollen sie bitte ihre Ausgaben umschichten. Das allein klingt schon extrem merkwürdig, kennen wir doch den Investitionsbedarf der Kommunen von 136 Mrd. €. Wer kann da noch ernsthaft behaupten, wir müssten uns Spielraum verschaffen, um für künftige Krisen gewappnet so sein, so das Lieblingsmantra der Regierenden? Denn solch eine Krise, sie ist längst schon da! Und was genau wollen denn unsere lieben Experten hier noch umschichten?

Auf der anderen Seite geistern offizielle und inoffizielle Verschuldungsprojektionen herum, die bis zum Jahr 2060 die Kosten für Renten, Krankheit, Gesundheit und Bildung auf die Nachkommastelle vorrechnen wollen. Diese Projektionen sollen hier nicht weiter interessieren, weil wir nicht wissen können, welche technologischen Revolutionen und welche Krisen die Wirtschaft noch so durcheinander wirbeln werden. Denken wir doch allein an die vergangenen 26 Jahre zurück. Demographische Vorausrechnungen sind zwar wichtig für den Hinterkopf, aber keine Handlungsanleitung, wenn es darum geht, konkret angehäufte Belastungen unserer Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Erst recht, wenn wir wissen, wie schnell sich solche Projektionen als falsch erweisen können.

Jedenfalls wird hier eine Überhitzungsgefahr an die Wand gemalt (erst vor wenigen Tagen in der FT von Jens Spahn, daher sein eigenartiger Verweis auf Keynes am Ende seines Beitrages), die es angeblich verbietet, dass die öffentlichen Haushalte über neue Schulden dringend benötigte Infrastrukturausgaben (zum Erhalt von Straßen, Schulen usw.) finanzieren. Völlig ausgeblendet wird dabei, dass neue Schulden für öffentliche Investitionen vielleicht kein bisschen zu einem Anstieg der Verschuldung führen müssen (also im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt). Die Verschuldungsquote kann sogar sinken, wenn das Bruttoinlandsprodukt am Ende stärker wachsen sollte als die öffentlichen Schulden. So genau weiß das vorher aber niemand – nicht einmal der gescheiteste Volkswirt. Nur hinterher sind immer alle schlauer, auch wenn derzeit viel dafür spricht, dass bei einem Nullzinsniveau genau das eintreten wird: Die Verschuldungsquote dürfte sinken.

Doch selbst wenn die Verschuldungsquote etwas steigen sollte, steht dem immer noch der volkswirtschaftliche Nutzen gegenüber, wenn wir unser Land nicht weiter verrotten lassen und damit attraktiver für künftige Investoren machen wollen. Nur wenn in einem Land die privaten Investitionen steigen, wird das Bruttoinlandsprodukt überhaupt stärker wachsen können als die Schulden und damit die öffentliche Verschuldungsquote auch auf längere Sicht im Zaum gehalten oder sogar gedrückt. Ein absoluter und markanter Schuldenabbau, wie er vergangenes Jahr in Deutschland passierte, hilft jedenfalls nicht dabei weiter, wenn es darum geht, private Investoren zum stärkeren Geldausgaben zu bewegen und die Kapazitäten wie behauptet tatsächlich auszulasten.

Aber schauen wir genauer hin, dann stellen wir schnell fest, dass zumindest die These von der Auslastung der Kapazitäten so auch gar nicht stimmt, wie wir in folgender Grafik sehen können.

Es ist zwar richtig, dass die Dienstleister ihre Kapazitäten derzeit recht stark ausgelastet haben, hier fehlt uns aber leider der Vergleich zu früheren Hochkonjunkturphasen, weil das Ifo-Institut diesen bedeutenden Wirtschaftszweig erst seit 2011 befragt. Für die Industrie ist aber klar erkennbar, dass mit aktuell knapp 85 Prozent keine Anzeichen von Übertreibungen zu erkennen sind, die überhaupt zu stärkerem Lohndruck führen könnten. Und selbst wenn es ihn geben sollte, wäre dieses Phänomen nicht ohnehin typisch für einen Konjunkturzyklus, der langsam zu seinem Ende schreitet? Jeder Lohnalarm wirkt so reichlich übertrieben. Das gilt auch für diejenigen, die wegen den Dienstleistern keinen Schlaf mehr finden, weil sie so sehr um die heilige Exportindustriewirtschaft dieses Landes bangen.

Nehmen wir in der Industrie einfach den Durchschnitt aus den Quartalen, die seit 1990 unmittelbar vor Rezessionen lagen – also 1991, 2000 sowie 2008 und berücksichtigen auch noch den Spitzenwert im aktuellen Zyklus vom Frühjahr 2011 – dann ist klar, dass eine Boomphase mit einer Auslastung von gut 88 Prozent auf ihrem Höhepunkt recht gut charakterisert ist. Von einer Vollauslastung ist die deutsche Industrie daher noch immer mit rund drei Prozentpunkten sehr, sehr weit entfernt. In Teilen entfernt sie sich sogar bereits wieder davon, wie der deutsche Maschinenbau zeigt.

Dies geht wahrscheinlich darauf zurück, dass die Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern derzeit kaum noch zulegt, wenn wir einmal deutsche Autos weglassen – und das gilt für die Nachfrage aus dem Inland, dem Rest des Eurolands und allen anderen Ländern der Welt. Vergessen wir nicht: Natürlich kann ein Konjunkturzyklus auch enden, ohne dass die Wirtschaft zuvor extrem heiß laufen muss. Europa neigt dieses Mal wohl genau zu solch einem Szenario, wenn hier bereits ein Fünftel des Euroraums seine abgeschriebenen Produktionskapazitäten und Gebäude einfach vergammeln und den Wert des Kapitalstocks damit schrumpfen lässt – so wie z.B. Italien. In den USA, Deutschland und anderen europäischen Ländern ist so etwas zuletzt in der Großen Depression der 1930er Jahre passiert.

Noch immer wird von vielen Ökonomen unterschätzt, dass sich jeder Aufschwung aber dadurch auszeichnet, dass eine Volkswirtschaft den Anteil ihrer Ausgaben für zusätzliche Investitionsgüter in der Regel beständig schneller ausweitet (und der Konsumanteil deshalb sehr oft sinkt in einem Aufschwung). Dieser dynamische Sparvorgang, der aber rein gar nichts mit Konsumverzicht zu tun hat, lässt sich somit nur begreifen, wenn wir uns vor allem die Industrie anschauen. So können wir den Konjunkturverlauf am besten erfassen und mögliche Überhitzungstendenzen eigentlich recht gut erkennen. Die Auslastung in der deutschen Industrie liegt nun aber seit fast drei Jahren auf einem Niveau, das in der Vergangenheit eher an Stagnationsphasen erinnert – wie zum Beispiel an das Jahr 2004. Genau so sieht es auch bei den Gewinnen aus: Denn Steigerungen von gerade einmal rund 25 Mrd. € (im Vergleich der laufenden Jahressummen) sind ebenfalls typisch für Stagnationsphasen.

Interessanterweise zeigt sich jedoch, dass die Gewinne zuletzt tatsächlich kräftiger gestiegen sind und damit dazu beigetragen haben, dass das Rezessionsrisiko in Deutschland wieder merklich gesunken ist. Genau das macht eine steigende Profitabilität aus: Solange die Gewinne noch immer stärker (prozentual) steigen als die Lohnsumme, haben die Unternehmen keinen Grund, ihre Jobs in Massen abzubauen und damit die nächste Krise einzuleiten. Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass die Unternehmen längst angefangen haben, das Wachstum ihrer Lohnsumme zurückfahren, was besonders die Quartalszahlen zeigen. Das muss zwar noch kein Trend sein: Jedenfalls können wir nicht ausschließen, dass in den nächsten Monaten auch der Trend bei den Gewinnen wieder drehen könnte. Wohin auch immer der mickrige Zickzackkurs der Wirtschaftserholung uns in Europa noch führen wird, von Überhitzung fehlt bislang noch immer jede Spur. Vieles hängt aber davon ab, wie lange der Jobaufbau in den USA noch weitergehen wird, die amerikanischen Unternehmen drosseln bei sinkenden Gewinnen schon länger und stärker das Wachstum der Lohnsumme und damit der Massennachfrage.

Egal ob Bundesbankchef, Finanzminister Dr Schäuble und die anderen Überhitzungsphantasten – sie können alle einmal tief durchatmen. Wenn der Internationale Währungsfonds immer wieder die Deutschen zu mehr öffentlichen Investitionen animiert (oder erst in dieser Woche die EZB), mögen diese Organisationen dabei im Sinn haben, was wie wollen. Natürlich werden wir die Weltwirtschaft damit nicht retten können. Dafür aber uns. Immerhin. Unsere Kommunen, unsere Straßen, unsere Schulen, unsere Krankenhäuser. Nur so legen wir überhaupt erst die Grundlage dafür, um mit den steigenden Kosten aus der demografischen Entwicklung in späteren Jahrzehnten fertig zu werden. Kurzfristig dürften öffentliche Investitionsausgaben uns aber dabei helfen, die nächste (globale?) Rezession zu bewältigen, wenngleich natürlich niemand ihren genauen Ausbruch vorhersagen kann: „Wir wissen nicht, ob das in sechs Wochen oder in sechs Monaten sein wird, aber wir befürchten, dass die Euro-Zone auf diese Krise schlecht vorbereitet ist“, sagt der Berliner Ökonom Hendrik Enderlein.

Ein trendmäßig schwaches Gewinnwachstum, eine nur durchschnittliche Kapazitätsauslastung in der Privatwirtschaft und dann war da noch dieses Versprechen der Großen Koalition, endlich zum Durchschnitt der OECD aufzuschließen: Selbst wenn eine Rezession bis 2020 oder noch später ausbleiben sollte, muss die Bundesregierung dennoch bereits heute und nicht morgen ein Investitionsprogramm auflegen (statt neue Wahlgeschenke zu versprechen). Schließlich braucht das alles eine gewisse Anlaufzeit. Wir können uns schon jetzt ausmalen, wie später, wenn es dann wieder kracht, hektisch diese lustigen Abwrackprämien aus dem Hut gezaubert werden. Gut, ein Regierungswechsel im nächsten Jahr wäre vielleicht auch nicht schlechteste bei so einer traurigen Koalition. Doch dieses Land kann sich diesen Investitionsstau schon lange nicht mehr leisten. Auf einen Regierungswechsel zu warten, kostet uns nur noch mehr.

Foto: Flickr/Paul Sableman/(CC BY 2.0)

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