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Meine Stimme aus Wien: Die Briten verlassen das sinkende Schiff

Großbritannien gehört seit der Finanzkrise wie die Vereinigten Staaten zu jenen Industrieländern, deren Wirtschaft am schnellsten wächst. Sei es nun das volkswirtschaftliche Einkommen-das Bruttoinlandsprodukt-oder der Wert des Kapitalstocks, das ist das gesamte Anlagevermögen eines Landes wie Maschinen, Geräte, Gebäude oder auch Patente. Nun werden die Briten also den Klub der dahinkriechenden Europäischen Union verlassen-und das ist vielleicht aus ihrer Sicht sogar nachvollziehbar.

Denn Neuinvestitionen in die Produktionskapazitäten sind die wichtigsten Ausgaben in einer Marktwirtschaft, sie legen erst die Basis dafür, dass überhaupt Gewinne und Lohneinkommen wachsen können. Alle Erfahrungen seit dem Zweiten Weltkrieg zeigen, dass der Kapitalstock im Aufschwung nicht einfach nur wächst, sondern sich stetig und beschleunigt erweitert. Kommt es zu Wirtschaftsflauten oder Krisen, wächst der Kapitalstock selbst dann noch, nur eben langsamer.

Dies wirkte lang wie Balsam nach dem Schock der wirtschaftlichen Katastrophe in den 1930er-Jahren-möglicherweise zu lang. Damals hörte der Kapitalstock in Amerika und anderswo einfach auf zu wachsen. Schrumpfende Kapitalwerte hatte man aber Jahrzehnte zuvor, wenn nicht sogar seit Beginn des Kapitalismus, nicht beobachtet: Ausbleibende Privatinvestitionen setzten sich in einer fatalen Abwärtsspirale aus sinkenden Preisen und Einkommen fest.

Die Lehre der Großen Depression wurde zur Maxime der Politik in den USA wie in Europa: Eine ökonomische Katastrophe wie damals muss um jeden Preis verhindert werden. Bei den Briten klappte dies nach der Finanzkrise recht gut. Der gesamte Kapitalstock wächst wieder stärker als vor 2007. Im Euroraum dagegen liegt der Zuwachs noch nicht einmal bei einem Drittel des damaligen-gefährlich nah am Schrumpfkurs. In Wahrheit verfällt in sechs Ländern des Währungsraumes seit drei Jahren das Kapital, genau wie nach dem Börsencrash des Jahres 1929.

Auch wenn wir die Entscheidung der Briten als extrem egoistisch und kurzsichtig empfinden, bleibt uns nur eines: Wir müssen alles, wirklich alles unternehmen, damit nicht auch der Rest Europas in der nächsten Rezession in einer Depression versinkt. Das geht am besten innerhalb der EU, was auch für die Briten gilt. Mit Sicherheit aber werden marktwirtschaftliche Strukturreformen allein nicht reichen.

Dieser Beitrag erschien als Leitartikel im WirtschaftsBlatt vom 27. Juni 2016.

Foto: Flickr/Babak Farrokhi/(CC BY 2.0)
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