Die Wunderheiler der Schuldenbonanza

Was Berlin den Krisenländern wie Griechenland als Erfolgsmodell predigt, hat sogar einmal funktioniert. Dafür mussten sich die Europäer aber bei den Deutschen verschulden.

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Wenn es um die Griechen geht, da kennen viele Deutsche nichts. Politiker, Ökonomen und Medienleute prügeln mit größter Arroganz auf das kleine, überschuldete Land ein. Die Bild-Zeitung fährt dieser Tage eine beispiellose Hetzkampagne gegen die „gierigen Griechen“. Und deutsche Eliten wissen es wieder einmal besser, wie die Hellenen aus ihrem angeblich selbst verschuldeten Schlamassel herauskommen können: mit Reformen, eisernem Sparen und sinkenden Löhnen. Fast genauso hätten sie es doch auch geschafft, damals, als die ganze Welt Anfang des Jahrtausends Deutschland als den „Kranken Mann Europas“ verspottete.

Viele Deutsche glauben noch immer, dass die Reform des Arbeitsmarkts die entscheidende Wende gebracht habe. Flexibilisierte Leiharbeit oder die Minijobs hätten den Unternehmen mehr Luft gegeben, die Löhne stiegen kaum und stärkten so die Firmen gegen die Konkurrenz. Nur vergessen viele dabei, dass die Deutschen vor allem die größten Profiteure der Schuldenbonanza vor der Finanzkrise waren. So sehr eine Liberalisierung des Arbeitsmarkts den Unternehmen in Krisenzeiten auch helfen mag – bislang stürzten die deutschen „Erfolgsrezepte“ Länder wie Griechenland nur in eine bittere Sozialkatastrophe.

„Kranker Mann Europas“

In die Lage des „Kranken Mannes Europas“ hat sich Deutschland zunächst einmal selbst gebracht. Von 1996 bis 2005 wächst die Wirtschaftsleistung im Schnitt nur noch um 1,2 Prozent pro Jahr. Vor dem Einheitsboom kommt Westdeutschland in den 1980er-Jahren auf doppelt so viel. Immer lauter klagen daher deutsche Unternehmer und Manager in den 90er-Jahren über die steigende Entlohnung für ihre Beschäftigten. Wie Zahlen des Statistikamtes Destatis zeigen, wachsen die Stundenlöhne in den ersten Jahren des Einheitsbooms tatsächlich deutlich stärker als die Produktivität – in der gesamten Volkswirtschaft von 1991 bis 1995 im Schnitt um 3,5 Prozentpunkte mehr. Und die operativen Vorsteuergewinne der Unternehmen steigen bis 1996 langsamer als ihre Nettowertschöpfung. Darunter verstehen Statistiker die Summe, die sich Arbeitgeber, Beschäftigte und der Staat untereinander als Einkommen aus dem Umsatzerlösen der heimischen Produktion aufteilen.

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Bereits 1996 kommt die entscheidende Wende, die die deutsche Wirtschaft erst einmal auf Jahre lähmen wird. Bis dahin hatten sich Arbeitgeber und Beschäftigte im Durchschnitt an die goldene Regel der Verteilungsgerechtigkeit aus den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gehalten. Daten der Industriestaatenorganisation OECD zeigen, wie bis 1996 Arbeitsnehmerentgelte im Trend so stark wachsen wie Produktivität und Preisniveau zusammen. Beschäftigte bekommen einen Inflationsausgleich und teilen sich mit den Kapitaleigentümern gleichmäßig die Früchte des Produktivitätsfortschritts.

Vorteil für die Kapitalseite

Seit Mitte der 1990er – Jahre weichen Arbeitgeber und Gewerkschaften von dieser Regel ab. Erstmals reden sie in den Verhandlungen zu den „Bündnissen für Arbeit“ darüber. Von nun an geht es immer zu Gunsten der Kapitalseite, die Einkommen laufen seitdem auseinander – vor allem nach 2000. Bis 2007 wachsen die operativen Gewinne um 80 Prozent, die Lohnsumme legte aber nur um acht Prozent zu.

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Zur gleichen Zeit steigen die Profite in Frankreich um 22 Prozent, die Lohnsumme um 33 Prozent. Wobei Ökonomen wie Heiner Flassbeck, ein scharfer Kritiker der deutschen Wirtschaftspolitik, immer wieder bemerken, dass die Franzosen immerhin die Stundenlöhne im Schnitt um zwei Prozentpunkte stärker wachsen lassen als die Produktivität. Dies würde auch genau zum Inflationsziel der EZB passen, die etwas weniger als zwei Prozent Inflation anstrebt. Und die Inflation werde auf lange Sicht dadurch bestimmt, sagt Flassbeck, wie sich dieser Abstand entwickelt, den Ökonomen auch den Anstieg der Lohnstückkosten nennen.

Bemerkenswerterweise wachsen die deutschen Gewinne dank der zurückhaltenden Lohnforderungen auch noch in den akuten Stagnations- und Krisenjahren 2001 bis 2003 kräftig. Da die Einkommen der Beschäftigten aber stagnieren, also die Nachfrage nicht mithält, hören die Unternehmen auf, Geld in den Aufbau neuen Kapitalstocks in Deutschland anzulegen. Im Gegenteil, von 2000 an und sogar noch bis 2005 sinkt der Anteil der Nettoinvestitionen am gesamtwirtschaftlichen Einkommen, dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das Land lähmt sich selbst, und als es in Europa längst wieder aufwärts geht, verharrt Deutschland zwei Jahre länger in der Stagnation.

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Die Deutschen erfahren bitter, was es heißt, wenn die ganze Welt sie als „Kranken Mann Europas“ abschreibt. Zählten sie im März 2001 noch offiziell 4 Millionen Arbeitslose, melden sie im März 2005 den Rekord von 5,266 Millionen. Die Arbeitslosenquote steigt von 9,8 auf 12,7 Prozent. Eigentlich unbegreiflich, wie die Regierung in Berlin ausgerechnet im Depressionsjahr 2004 auf die Idee kommt, auch noch ihre Ausgaben für öffentliche Dienstleistung abzusenken.

Berlin aber wird diese Erfahrung in viel harscherer Form später den Euro-Krisenländern als Erfolgsrezept verkaufen: Das Lohnwachstum bleibt mau, die operativen Gewinne steigen in Deutschland von 2000 bis 2005 aber um 26 Prozent.

Doch was machen die Unternehmen mit den Gewinnen, die nach Ausschüttungen übrig bleiben? Statt zu investieren zahlen die Firmen lieber ihre Schulden ab. Ihre Verschuldungsquote sinkt von 63 Prozent des BIP im Jahr 2003 auf 56 Prozent 2007. Oder sie legen die Mittel im Ausland an. Deutsche Banken, Versicherungen und Fonds ziehen gerne auch in den Süden Europas, wo unter der neuen Einheitswährung angeblich weniger Risiken drohen, dafür aber hohe Renditen locken.

Eine Geldflut in Europa

Noch bevor nur eine Reform am Arbeitsmarkt richtig wirkt, legen die Deutschen die Grundlagen des Aufschwungs ab 2005. Sichtbar wird dies bereits kurz nach der Jahrtausendwende. Während sich Staat, Unternehmen und Haushalte nach der Einheit Jahr für Jahr im Ausland noch verschulden, dreht der Trend 2001. Die Leistungsbilanz wechselt ins Positive, die Deutschen geben jetzt dem Ausland Kredit, das damit die vergleichsweise billiger produzierten Exportprodukte aus Deutschland kaufen kann.

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Der Kapitalexport ist fulminant: Bis 2007 legen die Deutschen rund 600 Milliarden € im Ausland an. Mit dem Nachfrageschub von dort fangen die Unternehmen endlich wieder, zu Hause zu investieren und Jobs aufzubauen. Erst jetzt wirken die Arbeitsmarktreformen, und die Arbeitslosigkeit gehört seit der Finanzkrise selbst in Jahren mit mauem Wachstum und Rezession zu den niedrigsten in Europa. Bis 2014 kommen allerdings noch einmal 1230 Milliarden € in der Leistungsbilanz dazu – nur fließen die Gelder jetzt weniger nach Europa, wo vielerorts Unternehmen, Privathaushalte und auch die Regierungen ihre Verschuldung versuchen abzubauen.

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Oft beklagen Kritiker, dass die deutsche Wirtschaft sich zu Lasten seiner Partner im Euro-Raum saniert habe, die sich wie die Franzosen bei Lohnverhandlungen am Inflationsziel der EZB orientieren. In anderen Ländern steigen die Lohnstückkosten allerdings stärker, aber keiner wich so weit vom EZB-Inflationsziel ab wie die Deutschen – und zwar nach unten. Wahr bleibt auch: Ein Vergleich deutscher und amerikanischer Unternehmen zeigt, dass die operativen Gewinnmargen (gemessen an ihrer Nettowertschöpfung) seit der Jahrtausendwende ähnlich stark steigen, womit zumindest hier die Deutschen mit der Konkurrenz aus Übersee mithalten und kurzzeitig besser abschneiden.

In der Finanzkrise und der durch die Sparpolitik ausgelösten Rezession von 2012/13 sank auch die durchschnittliche Gewinnmarge in Deutschland. Doch nie fiel sie unter das Niveau des Jahres 2003, Massenkündigungen vermeiden die Unternehmen. Falls die Auslandsnachfrage aber einmal wieder einbrechen wird, kann das angebliche Erfolgsmodell wie ein Kartenhaus zusammenfallen.

Ein Wirtschaftswunder aus dem WirtschaftsBlatt vom 2. März 2015. Irgendwie ist dort etwas mit dem Titel falsch gelaufen. Hier im Blog seht jetzt der richtige.

 

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